Experteninterview mit Prof. Dr. Monique Scheer
Monique Scheer ist Professorin für Empirische Kulturwissenschaft (EKW) und Volkskunde mit dem Schwerpunkt Ethnographie kultureller Vielfalt an der Universität Tübingen. In ihrem Buch „Bindestrich-Deutsche?” beschäftigt sie sich mit der Frage, wie sich eine Mehrfachzugehörigkeit im Alltag ausprägt.
Aufgewachsen und geboren ist Monique Scheer in den USA. Sie ist halb US-amerikanisch, halb deutsch, und kennt die Herausforderungen einer Mehrfachzugehörigkeit daher aus eigener Erfahrung. Für ihr Magisterstudium der EKW und Religionswissenschaft ist sie mit 22 Jahren nach Deutschland gekommen, wo sie mit ihrer Familie heute in Stuttgart wohnt.
Wie definieren Sie für sich persönlich den Begriff der „Kultur“?
Als Kulturwissenschaftlerin kann ich den Begriff der „Kultur” nicht persönlich, sondern nur wissenschaftlich definieren. In unserem Fach reden wir viel über Kulturen und darüber, was es ist. Dabei versuchen wir vor allem die Prozesshaftigkeit von Kultur zu betonen. Kultur ist nichts, das gegeben ist, in das man reinsozialisiert wird und dann so bleibt. Kultur ist immer in Bewegung, im Werden und sich transformieren. Deutschsein 1965 war etwas völlig anderes als Deutschsein 1995 oder 2015. „Ich bin deutsch“ – was das heißt, ändert sich im Laufe der Zeit auch für diejenigen, die sich als Deutsche identifizieren. Aus diesem Grund ist Kultur immer in Bewegung, denn sie ist angewiesen auf die ausführenden Praktiken, die jeder Einzelne beiträgt.
Kultur ist ein gewisses Set an Gewohnheiten, dazu zählt die Sprache, unsere Art sich auszudrücken, aber auch bestimmte Kenntnisse über alltägliche Vorgänge, eine gewisse Aneignung von kulturellen Angeboten im Sinne der Hochkultur oder der mittleren Hochkultur, sprich Popkultur. Dann auch so etwas wie einen Erfahrungsschatz, den man mit anderen teilt. Dass man zum Beispiel weiß, was der „Tatort” ist oder, dass man weiß, wie ein Geldautomat bei der Sparkasse funktioniert. Das sind alltägliche Erfahrungen, die einen Wissensschatz bilden. Wenn man mit jemandem spricht, der aus der gleichen Kultur stammt, dann weiß man, dass man davon ausgehen kann, dass dieser Mensch das auch weiß. Dazu zählen geteilte Wissensbestände und eine geteilte Sprache, zumindest auf dem Niveau, das es erlaubt, sich zu verständigen. Und zuletzt so etwas, wie geteilte ästhetische Erfahrungen, beispielsweise in der Kunst oder Musik.
Oft wird Kultur als Hochkultur, Kunst und kultureller Ausdruck im Sinne von künstlerischem Ausdruck verstanden oder aber als geteiltes Wertesystem. Ich finde aber, da ist man gleich in einem sehr schwierigen Fahrwasser. Deswegen würde ich eher davon absehen, Werte und Wertegemeinschaft im Bereich der Kultur zu verorten, sondern einfach nur die geteilten Wissensbestände. Dabei spricht man manchmal von einem geteilten Wissen über Regeln des Umgangs miteinander: „Bei uns macht man das so. Bei uns ist es üblich, beim Kaffeetrinken auf dem Boden zu sitzen.” Das sind alltägliche Regeln, die oft auch zum Bereich Kultur zählen. Doch was wir weniger tun, ist, von einer Kultur zu sprechen im Gegensatz zu einer anderen Kultur, also von Kultur-en im Plural, da sind wir immer sehr vorsichtig. Denn manchmal verweisen wir dabei auf ein Kugelkonzept mit der Idee, dass eine Kultur eine Kugel darstellt, die eine abgeschlossene Einheit, in sich homogen und klar abgrenzbar ist gegenüber anderen Einheiten, die wiederum auch völlig getrennt und in sich homogen sind. Doch erstens sind Kulturen in sich niemals homogen und zweitens sind sie nie völlig voneinander abgegrenzt und waren das auch nie. Ethnologen hatten in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Idee, dass vielleicht einzelne Inselgesellschaften abgekapselt sein könnten, aber selbst diese waren es nie wirklich. Insofern war das Kugelkonzept immer nur eine Idee, die man auch zurückverfolgen kann bis zu Herder und Volksgeist.
Das ist der alte Kulturbegriff von dem wir heute abraten und der in diese ganze Problematik des Kulturdeterminismus, der Zuschreibung von kulturellen Merkmalen und Alltagsrassismus überleitet. Daraus können Diskriminierungspraktiken hervorgehen und deshalb stellen wir lieber den prozessualen Kulturbegriff in den Mittelpunkt. In diesem Verständnis haben oder praktizieren alle Menschen Kultur. Diese ist zusammengesetzt aus den verschiedensten Quellen, die sich überlappen, divergieren, vermischen und permanent in Bewegung sind.
Können Sie sich erklären, weshalb viele Menschen ein Problem damit haben, die deutsche Kultur zu definieren?
Das liegt daran, dass die deutsche Kultur nichts Festes ist und es auch niemals war. Versuche, die das Gegenteil zeigen, können nur ironisch gemeint sein, weil jeder weiß, dass das gar nicht geht: „Der Deutsche an sich ist so oder so”. Auch wenn es diese interkulturellen Kompetenzkurse oder Bücher gibt, die beschreiben, wie man in einem bestimmten Land auftreten soll, letzten Endes sind sie meist oberflächlich und klischeehaft. Es gab sogar schon Ethnologen, die gesagt haben: „Eigentlich sollten wir den Kulturbegriff ad acta legen, entsorgen, wegwerfen!”
Aus diesem Grund glaube ich, sind die Leute auch so vorsichtig, wenn sie sagen, das ist definitiv deutsch oder Deutsche sind definitiv so, weil sie intuitiv wissen: Es gibt erstens viele andere Kulturen, die genauso sind und zweitens ist das immer relativ. Im Vergleich zu Franzosen sind Deutsche vielleicht ernsthafter, aber im Vergleich zu anderen wiederum nicht. Wie kann man daher sagen, dass sie so oder so sind? Das ist immer eine relative Sache. Zum anderen wissen wir intuitiv, dass es stereotypisch ist so zu denken. Dann bildet und bestätigt man Stereotype und das wäre meine Erklärung dafür, dass viele Leute Schwierigkeiten mit der Beantwortung dieser Frage haben.
Sie schreiben in Ihrem Buch von „Bindestrich-Deutschen“. Sehen Sie auch, dass der Begriff eine positive oder negative Wertung hat?
Wir haben bewusst hinter diesem Titel ein Fragezeichen gesetzt. Zu Beginn dieses Projektes wollte ich es „Halfies“ nennen. Wenn man einen bestimmten klassischen Text aus der Ethnologie gelesen hat, nämlich den Artikel von Lila Abu-Lughod mit der Überschrift „Gegen Kultur Schreiben“, auf Englisch heißt es „Writing Against Culture“, dann kennt man den Begriff „Halfies“, weil sie das in ihrem Text verwendet. Half and Half, das sind Menschen, die halbe-halbe sind. Ich habe von dieser ursprünglichen Idee abgesehen und dachte: Was könnte ich in der deutschen Sprache als adäquaten Ersatz anbieten? Daraufhin kam ich auf die Idee mit „Bindestrich-Deutsche?“. Und je länger wir im Projekt darüber gesprochen haben, desto mehr fanden wir das eine gute Sache.
Es gibt viele verschiedene Ebenen, die man auf diese Weise diskutieren kann. Mehrfachzugehörigkeit, bedeutet das, ich kann deutsch sein und gleichzeitig etwas anderes? Und wie drücke ich das aus? Indem ich diese Bindestrich-Konstellation baue, zumindest sprachlich. Dennoch fragen wir uns: „Deutsche“ bleibt das Hauptwort, warum sagen wir „Russland-Deutsche“, aber „Deutsch-Türken“? Weshalb gibt es diese Reihenfolge und was sagt sie aus? Das ist ein guter Ansatz, um ein Gespräch darüber zu starten, wie wir uns überhaupt eine Mehrfachzugehörigkeit und eine multikulturelle Gesellschaft vorstellen. Wenn es irritiert, ist es dann in Ordnung? Als wir für das Buch Interviews führten fragten manche: „Ich, Bindestrich? Also ich fühle mich gar nicht so. Ich bin Italiener. Ich lebe in Deutschland seit 35 Jahren, aber ich bin Italiener, ich bin nichts anderes. Also ich verstehe nicht, warum ich Italienisch-Deutscher sein soll? Ich will das gar nicht sein!” Und dann dachten wir, „Bindestrich-Deutsche” hat ein bisschen etwas Hegemoniales. Vielleicht steckt in diesem Begriff eine Integrationsforderung, die wir nicht beabsichtigen.
Wie Sie sehen, ist es ein Feld, in dem man im Prinzip nichts richtig machen kann. Denn egal, welchen Begriff man wählt, irgendetwas ist nicht gut daran! Wir haben auch den Begriff „Neue-Deutsche“ in Erwägung gezogen, der auch oft diskutiert wird. Doch dann haben wir gedacht: Das ist unpassend, weil so viele Leute von denen man behaupten würde, das sind die neuen Deutschen, schon seit Generationen hier sind. Das wäre nicht wirklich fair. „Menschen mit Migrationshintergrund” war für mich beispielsweise schon ein Fortschritt im Gegensatz zu „Ausländer“ und der Anfang einer echten Diskussion in diesem Land darüber, dass wir tatsächlich Deutsche mit Migrationshintergrund haben. Aus meiner amerikanischen Perspektive gesehen war es vielleicht auch ein Anliegen, diese übliche Bindestrich-Konstellation, die man in den USA, in Kanada und in den sogenannten klassischen Einwanderungsländern hat, auch hier einzuführen. Warum nicht auch für ein Land wie Deutschland? Viele sagen: „Das klingt nicht so gut! Asian-American klingt super, aber Türkisch-Deutsch oder Polnisch-Deutsch klingt irgendwie seltsam.” Daraufhin sage ich: „Warum? Nur, weil wir nicht daran gewöhnt sind!” Wenn wir anfangen, das Wort immer wieder zu sagen und die Medien das aufgreifen, wird es uns bald nicht mehr komisch vorkommen. Es ist wirklich nur eine Sache der Gewöhnung und auf dieser Grundlage baut die Idee auf, den Begriff „Bindestrich-Deutsche?” einmal auszuprobieren. Und weil es nur ein Ausprobieren ist, haben wir den Titel unseres Buches mit einem Fragezeichen versehen.
Welche Vorteile und Herausforderungen bringt eine Mehrfachzugehörigkeit mit sich?
Wir fokussieren sehr häufig die Herausforderungen, die eine Mehrfachzugehörigkeit mit sich bringt. Deshalb war es in diesem Projekt ein Anliegen, nicht nur die Herausforderungen hervorzuheben, sondern auch die kleinen Vorteile oder das Vergnügen daran. Tatsächlich kann sie eine Menge Spaß machen, denn immerhin hat man zwei oder mehrere große kulturelle Töpfe, aus denen man schöpfen kann! Das stand für uns ein bisschen im Mittelpunkt, weil wir über die Herausforderungen ganz oft sprechen, wie zum Beispiel, dass man mit Diskriminierung und Vorurteilen konfrontiert wird, je nachdem welche Art von Mehrfachzugehörigkeit man hat. In meinem persönlichen Fall ist es so, dass man sie mir nicht ansieht. Rein phänotypisch würde man sagen: „Deutsch, kein Problem!” Wenn ich spreche, je nachdem, ob manche Leute es sofort heraushören oder nicht, sagen sie: „Was?” Sie kennen mich seit Jahren und sagen: „Du bist keine Deutsche?” Offensichtlich hängt das auch ein bisschen vom Gehör ab, aber wenn mein Akzent auffällt fragen sie mich: „Oh, du hast einen Akzent, wo kommst du her?” Wenn es schließlich bekannt ist, dass ich Amerikanerin bin, bekomme ich die volle Latte von Vorurteilen ab, die man über Amerika hat. Das ist schon jedes Mal eine Herausforderung damit umzugehen. Dennoch fühle ich mich in dieser Situation absolut privilegiert, da ich weiß bin und ganz viele Anfeindungen nicht abbekomme, die Menschen mit einer dunklen Hautfarbe sofort widerfahren, auch wenn sie wie ich Amerikaner sind.
Eine gute Freundin von mir ist schwarze Amerikanerin und sagt: „It’s written on my face.” Bei ihr erkennt man es immer sofort, es gibt keinen Verzögerungsmoment wie bei mir. Im Englischen gibt es das Wort „passing“, das soviel bedeutet wie „durchgehen als“. Viele Menschen denken im ersten Augenblick, ich könnte „passen”. Doch nachdem meine Mehrfachzugehörigkeit bekannt wird, kriege ich Vorurteile vor den Latz geknallt. Das sind sehr spezifische Vorurteile, weil Amerika als Kolonialmacht empfunden wird. Aus der Perspektive der Deutschen wird gesagt: „Die Amerikaner sind hierher gekommen und haben alles, im Prinzip auch unsere Kultur, zunichte gemacht und amerikanisiert. Dabei haben die Amerikaner noch nicht einmal eine eigene Kultur!” Man kann nicht über einen Kamm scheren, was Menschen mit einer Mehrfachzugehörigkeit für Herausforderungen zu bewältigen haben. Es kommt absolut darauf an, um welche Art von Mehrfachzugehörigkeit es sich handelt.
In unserem Buch haben wir versucht die verschiedenen Konstellationen einer Mehrfachzugehörigkeit darzustellen. Auf der einen Seite gibt es beispielsweise Menschen, die ein Elternteil aus Kultur A und ein Elternteil aus Kultur B haben. Auf der anderen Seite gibt es die Konstellation, dass beide Elternteile aus einem Land abstammen, jedoch die Kinder hier geboren und/oder aufgewachsen sind. In diesem Fall stellen Elternhaus und Schule zwei unterschiedliche Kulturen dar, in die sie reinsozialisiert werden. Das sind ganz verschiedene Voraussetzungen, die beide eine Mehrfachzugehörigkeit darstellen, aber anders geartet sind bezüglich der Privilegierung in der Mehrheitsgesellschaft und auch in der Alltagserfahrung. Darüber hinaus spielt es eine Rolle, ob man hier geboren oder erst später zugezogen ist, wie alt man zu diesem Zeitpunkt war, wie gut man die Sprache beherrscht und zuletzt kommen noch die sozioökonomischen Faktoren hinzu: Habe ich viel Geld, habe ich wenig Geld, komme ich aus einer bürgerlichen Familie aus Teheran hierher? Die Migranten aus dem Iran der 70er Jahre wurden im Alltag ganz anders behandelt als Einwanderer aus der Türkei, die als Gastarbeiter gekommen sind und am Fließband gearbeitet haben. Die Schichtzugehörigkeit spielt eine große Rolle, deshalb sind die Herausforderungen vielfältig und immer abhängig davon, welche spezifische Mehrfachzugehörigkeit man hat.
Können Sie abschätzen, ob für den Großteil der Personen eine Mehrfachzugehörigkeit als etwas Positives, also als eine Bereicherung, oder als eine Last empfunden wird?
Ich will nicht für andere sprechen und auch auf der Grundlage unserer kleinen empirischen Studie, für die wir ca. 70 Interviews geführt haben, was ein geringes Sample darstellt, kann ich kein Resümee ziehen. Ich würde sagen, es ist wie Kinder haben: Es ist toll und schrecklich zugleich! Auf jeden Fall ist es eine dieser riesigen Fragen, die man nur schlecht beantworten kann. Natürlich kommt es auch immer darauf an, wo man herkommt. Einige Menschen kommen aus bestimmten Ländern, mit denen sie persönlich eine schlechte Verbindung haben. Ein Freund von mir kommt ursprünglich aus Südafrika und hat eine Wut auf dieses Land, die Politik und auf die Dinge, die er dort erlebt hat, sodass er absolut nichts mit diesem Land zu tun haben möchte. Es gibt die Art von Auswanderung, bei der man sich wirklich total abgrenzt. So verhält es sich auch mit den Juden, die aufgrund der Nazi-Verfolgung von Deutschland in die USA ausgewandert sind. Viele von ihnen wollen bis heute nichts mehr mit Deutschland zu tun haben, dieser Abschnitt ist für sie abgeschlossen. Sie würden die Mehrfachzugehörigkeit als eine viel zu große Last empfinden und streben stattdessen die völlige Assimilation an. Das ist der eine Extremfall. Der andere Extremfall ist der, dass ich zwar in ein anderes Land ziehe, aber ich will von diesem Land eigentlich überhaupt nichts wissen. Vielleicht möchte ich gar nicht so lange bleiben und versuche deshalb auch keine Mehrfachzugehörigkeit zu entwickeln oder sie in Praktiken zu verwirklichen. Das wäre die völlige Ablehnung, weil eine Mehrfachzugehörigkeit eine zu große Last wäre. Doch die meisten Menschen, ich schätze zu etwa 99 Prozent, finden sich irgendwo dazwischen wieder. Das ist auch das, was wir mit unserer Wissenschaft erreichen möchten. Wir versuchen, die Lebenswelten von Menschen mit einer Mehrfachzugehörigkeit ans Tageslicht oder in die öffentliche Diskussion zu bringen, damit man eine Welt erschaffen kann, in der sie nicht als Last empfunden wird. Vermutlich werden wir die Last nie vollständig beseitigen können, denn es wird immer Sachen geben, die einen nerven, aber wir möchten sie auf einem möglichst geringen Niveau halten. Mehrfachzugehörigkeit soll keine Last sein und ich hoffe, dass es die meisten vorwiegend als etwas Positives und als eine große Bereicherung erleben. In meinem Fall tue ich das, aber ich bin wie gesagt privilegiert. Ich möchte nicht für alle sprechen, doch das wäre das Ziel, dass es von allen so empfunden wird.
Weshalb ist die Mehrfachzugehörigkeit für Sie persönlich eine Bereicherung?
Das liegt daran, dass ich zwei große Töpfe habe, aus denen ich schöpfen kann. Es macht Spaß, ich beherrsche zwei Sprachen fließend, was im Grunde genommen eigentlich nichts ist, denn es gibt Leute, die viel mehr Sprachen beherrschen als ich. Doch ich habe so viel Freude daran, zwischen diesen beiden Sprachen hin und her zu springen! Ich kann mir gut vorstellen, dass es noch mehr Spaß macht, wenn man weitere Sprachen zur Verfügung hat, mit denen man spielen kann. Je nachdem, wer gerade den Raum betritt, kann man die Sprache wechseln, Witze erzählen und im nächsten Moment wieder zur nächsten Sprache springen. Das ist schon fast eine sportliche oder intellektuelle Freude. Man kann viele Bücher und Zeitschriften im Original lesen, wenn man Lust hat. Das ist eine tolle Bereicherung! Auch Filme lassen sich im Original anschauen oder man kann in bestimmte Länder reisen und sich mit den Einheimischen verständigen. Wer beispielsweise Spanisch kann, hat eine riesige Welt vor sich und lernt mit den Sprachkenntnissen das Land ganz anders kennen als gewöhnliche Touristen. Für mich bewegen sich die Vorzüge eher auf der popkulturellen Ebene. Ich schaue mir wahnsinnig gerne amerikanische Fernsehserien an und mache das natürlich nur mit Originalton. Dabei freue ich mich riesig, dass ich auch wirklich jede kleinste Nuance verstehe und darüber lachen kann. Das ist schon toll!
Wie entsteht ihrer Meinung nach ein Zugehörigkeitsgefühl?
Ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht nicht allein von Innen heraus. Das wäre mir ganz wichtig zu betonen! Ich finde, dass in vielen Debatten oft vergessen wird, dass das Gefühl von „Wer bin ich und wo gehöre ich hin?” sowohl von mir selbst gebildet wird, aber auch gespiegelt werden muss. Es muss von der anderen Seite angenommen werden, sonst bekomme ich Zweifel. Das habe ich persönlich auch schon erfahren. Meine Mutter hat mir als Kind immer gesagt: „Du bist auch Deutsche, du hast eine deutsche Mutter und deutsche Verwandte.” In meiner Kindheit hat sie versucht, mit mir Deutsch zu sprechen und mich ständig daran erinnert, dass ein Teil von mir auch deutsch ist. Wenn es in der Schule beispielsweise darum ging, die Nationalflagge aufzumalen, dann musste ich immer sowohl die amerikanische als auch die deutsche Flagge aufzeichnen, weil ich Deutsch-Amerikanerin bin. Als ich später nach Deutschland ausgewandert bin, kam ich hier mit dem Gefühl an: „Ja, du bist auch deutsch.” Doch die Reaktionen meiner Umgebung haben mir verdeutlicht: „Nein, du bist Amerikanerin!” Das hat mich zweifeln lassen und mir ist in diesem Augenblick klar geworden, dass ich vielleicht doch nicht so deutsch bin wie meine Mitmenschen um mich herum.
Als ich jünger war, habe ich viele Denk- und Handlungsweisen meiner Mutter nicht begreifen können. Erst als ich nach Deutschland kam und feststellte, dass die Menschen hier genauso sind, konnte ich vieles besser nachvollziehen. Ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht meiner Meinung nach durch einen Prozess, der im Austausch mit der Umwelt stattfindet. Daher ist es wichtig, eine Gesellschaft zu schaffen, die dafür sensibilisiert ist und weiß, dass es einen Unterschied macht, wie ich auf einen Menschen zugehe. Man kann mit kleinsten sprachlichen Signalen zeigen, ob man jemanden als zugehörig akzeptiert oder nicht.
Es gibt eine Sache, die mich schon seit Längerem beschäftigt. Im Deutschen sagen wir gerne: „Bei uns ist das so, wie ist das bei euch?“ Dieses „bei uns“ und „bei euch“ kann ich gar nicht ins Englische übertragen. Das funktioniert nicht. Als Übersetzerin bin ich manchmal auch darüber gestolpert und habe überlegt: Wie sagt man das? Das sagt man gar nicht, „bei uns, bei denen”. In dem Moment, in dem man „bei uns” sagt, ist man gleich positioniert. Entweder ich gehöre dazu oder ich gehöre nicht dazu. Und das ist dann der Punkt, an dem ich weiß, wie man mich einschätzt. Wenn ich mich unter einer Gruppe befinde, die sich beispielsweise über das Thema Einwanderung unterhält, werde ich oft angeschaut und gefragt: „Wie ist das bei euch?” In diesen Situationen denke ich mir: Was heißt das jetzt? Für mich ist das eine ähnliche Frage wie „Wo kommst du her?” Wenn ich provozieren möchte, sage ich: „Sie meinen bei uns in Stuttgart?” Und dann heißt es immer: „Nein, bei euch in den USA.” Dann sage ich den Leuten, dass ich das nicht weiß, weil ich schon seit fast 30 Jahren hier lebe und die Neuigkeiten auch nur aus den Medien oder über Freunde erfahre. Natürlich habe ich eine gewisse Verbindung zu den USA und ich achte unbewusst ein bisschen mehr auf Nachrichten, die von den USA handeln. Vielleicht verfolge ich das ganze Geschehen auch ein bisschen mehr und ich habe tiefere Einblick in die Geschichte, da ich dort aufgewachsen bin und mich auskenne. Aber dieses kleine Signal „Wie ist das bei euch?” katapultiert mich aus der Gemeinschaft, es grenzt mich aus. Das sind die Momente, in denen Migranten merken: „Ich gehöre nicht dazu.” Auch, wenn ich gedacht habe, ich würde dazugehören, signalisiert mir diese kleine Andeutung, dass ich das eben nicht tue. Dann geht man wieder in sich und überlegt, wie das jetzt für mich ist. Das ist auch der performative Ansatz, der besagt, dass die Darstellung nach Außen auch immer nach Innen wirkt und eine Selbstreflextion generiert. Die Identität steht im Kontrast zu dem, wie ich wahrgenommen werde. Aus diesem Grund entsteht die Zugehörigkeit durch einen Austauschprozess, der immer wieder mit Rückschlägen und Verunsicherung verbunden ist.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Zugehörigkeitsgefühl und der Identität?
Ich glaube, dass beide Begriffe sehr eng beieinander liegen. Die Identität ist in unserem Fach und in der Soziologie sehr umstritten, weil Identität auch etwas zu Festes sein kann. Das ähnelt ein bisschen dem Kulturkonzept, das Kulturen als etwas Festes beschreibt. Identität als eine feste Einheit, die bestimmt wer ich bin und, dass ich auch so bleibe. Doch Identitäten sind nichts Festes, sondern ständig im Werden und sich verändern. Im Kern weiß ich, wer ich bin und kann das auch nach Außen transportieren. Die Vorstellung einer aufrichtigen Darstellung meiner Identität, als wüsste ich, wer ich bin, als ob ich heute die gleiche Person bin, die ich gestern war, als wäre ich nicht mehrere Personen gleichzeitig, die vielleicht verschiedene Rollen einnehmen. Identität ist in diesem Sinne viel zu homogenisierend und festschreibend. Aus diesem Grund geht man dazu über, anstelle von Identität häufig von Zugehörigkeit zu sprechen. Denn was meinen wir mit Identität? Es beschreibt, wer ich bin und welcher Gruppe ich mich zugehörig fühle. In meinem Fall könnte man mich der Gruppe „Frau”, „Deutsch” oder „Serienfan” zuschreiben. Daher spielen die Annahme und die Akzeptanz einer gewissen Zugehörigkeit von beiden Seiten eine wichtige Rolle, nicht nur von mir selbst. Manchmal werden Zugehörigkeiten oder Identitäten auf einen projiziert, die man selbst gar nicht haben möchte. Man sieht mich und sagt: „Blond, weiß, blauäugig, amerikanisch, Mittelschicht – Republikanerin!” Und dann denke ich: „Nein, so ein Quatsch! Das bin ich nicht, aber wieso denken die das?” Jeder Stereotyp ist im Prinzip eine Zuschreibung, bei der man oftmals denkt: „Nein, das bin ich nicht!“ Es muss irgendwie im Einklang sein, dieses „Was ich von mir halte, was ich denke, was ich bin und was andere auch bereit sind anzuerkennen und zu sagen: Ja, das sehe ich auch!” In diesem Austausch entsteht sowohl eine Identität, die verstanden wird, als auch das Gefühl von Zugehörigkeit zu den Gruppen, mit denen man sich identifiziert.
Was passiert mit Menschen, die eine Mehrfachzugehörigkeit haben und nicht wissen, zu welcher Gruppe sie dazugehören? Welchen Einfluss hat das auf ihre Identität?
Es wird in manchen Untersuchungen von einer sogenannten inneren Zerrissenheit berichtet, besonders im Zusammenhang mit Jugendlichen, weil man vermutet, dass sich Jugendliche im Prozess der Identitätsfindung befinden. Dazu könnte man die Frage stellen, ob Erwachsene nicht auch in einem permanenten Prozess der Identitätsfindung sind, weil das Leben nicht so langweilig ist, dass man sein ganzes Leben lang immer die gleiche Person bleibt. Zudem haben wir lange gedacht, wer kein Gefühl von Heimat hat, ist arm dran. Doch das Beheimatungskonzept einer Kollegin aus Berlin, Beate Binder, mit dem wir in unserem Buch auch gearbeitet haben, zeigt anhand von Untersuchungen, dass viele Leute ein ganz anderes Konzept von Heimat haben. Darüber hinaus haben sie auch kein Problem damit, nicht verwurzelt zu sein und empfinden es vielleicht sogar als etwas Schönes. Sie fühlen sich keinem bestimmten Ort und auch keiner bestimmten Kultur zugehörig, sondern schweben nur darüber.
Erst heute habe ich mit meinen Studenten über das Konzept des Weltbürgertums beziehungsweise Kosmopolitanismus gesprochen und über die Vorstellung, ob es möglich ist nirgends und doch irgendwie überall zugehörig zu sein. Die Idee von Zugehörigkeit wollen wir ein bisschen auflockern, ein bisschen leichter machen und es nicht sofort problematisieren, wenn jemand nicht sagen kann: „Das ist meine Heimat, da gehöre ich hin, das bin ich.” Das sind Forderungen, die wir stellen, und die ganz stark ausgeprägt sind. Das sind die kleinen alltäglichen Situationen, in denen abgeklopft wird, welcher Nation wir uns zugehörig fühlen. Wenn beispielsweise im Fußball Deutschland gegen die USA spielt, wird sofort nachgefragt: „Frau Scheer, auf welcher Seite stehen Sie?“ Dann muss ich Farbe bekennen! Anerkennung und Aberkennung, all das läuft in solchen Situationen ab und ich denke, man müsste in solchen Situationen auch sagen können: „Ich bin zwar in den USA geboren, aber ich habe jetzt Lust für die deutsche Mannschaft zu sein!” Oder ich sage, dass ich im sportlichen Bereich grundsätzlich für die nicht favorisierte Mannschaft bin, für den Underdog sozusagen, und das ist im Fußball immer die USA!
Kennen Sie das Gefühl, dass man sich manchmal in beiden Kulturen fremd und keiner so richtig zugehörig fühlt?
Ja, ich kenne dieses Gefühl und es begegnet uns in Erzählungen von Immigranten. Viele Menschen sind in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund der Nazi-Diktatur ausgewandert, nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus vielen osteuropäischen Ländern. Sie kommen in ein neues Land und sagen: „Hier bin ich nicht wirklich Zuhause, ich fühle mich nicht zugehörig, ich will hier nicht Zuhause sein, das ist nicht meine Welt. Aber dort, wo ich herkomme, fühle ich mich auch nicht mehr Zuhause, diese Welt ist anders geworden. Die Welt, meine Welt, wo ich leben will, wo ich mich zugehörig fühle, die ist verschwunden und die gibt es nicht mehr.” Diese Erfahrung machen Menschen, die aus ihren Heimatländern vertrieben wurden. Ich frage mich, ob die syrischen Flüchtlinge, die wir jetzt gerade in Deutschland aufnehmen, auch so etwas empfinden. Zum Beispiel, dass sie sagen: „Mein Syrien gibt es nicht mehr.” Natürlich ist das tragisch und es gehört zum Menschsein leider dazu, dass man manchmal einen Zusammenhang verliert, einen neuen aufbaut oder vielleicht auch nicht. Es ist auch in Ordnung, wenn ich mich nirgends zugehörig fühle, fühlen möchte oder fühlen kann – das kann man auch so stehen lassen.
Momentan haben wir die Situation, dass Deutschland endlich verstanden hat: „Wir sind ein Einwanderungsland und wir machen jetzt Integrationsmaßnahmen, damit die Menschen hier ankommen und sich aufgenommen fühlen.” Doch diese Maßnahmen kommen mit einem Pflichtcharakter daher, bei denen man denkt: „Was ist, wenn ich weiterhin so sein will, wie ich immer war? Wenn ich meine Leute um mich haben möchte, mit denen ich mich wohl fühle? Wenn wir unser eigenes Ding machen wollen und dabei die anderen in Ruhe lassen, gibt es dafür keinen Raum?” Es ist immer ein gewisser Druck vorhanden, der mit der Frage verbunden ist, wie es eigentlich sein muss.
Es gibt momentan immer mehr die Befürchtung, dass eine multikulturelle Gesellschaft einen Teil der deutschen Kultur einnimmt. Wie stehen Sie dazu?
Ich denke, es gibt nicht die eine deutsche Kultur, die schon immer so war und so bleiben müsste. Vielmehr es gibt eine kulturelle Dimension der Gesellschaft, die immer in Bewegung ist! Das heißt, dass sich die deutsche Kultur verändern wird, aber das hätte sie ohnehin getan, weil es immer Prozesse gibt, die die Kultur verändern. Selbst wenn wir den Zeitraum nehmen, bevor es mit den großen Migrationswellen angefangen hat, war die deutsche Kultur 1880 eine andere als 1812. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein geeintes Deutschland, die bürgerliche Schicht war anders zusammengesetzt, es handelte sich um eine Agrargesellschaft. Oft wurde versucht die Idee des Deutschseins zu vereinheitlichen. Doch auch das steht im Kontrast zu dem, was sich während der NS-Zeit oder in den 60er Jahren abgespielt hat. Deutschsein ändert sich, die deutsche Kultur ist permanent im Fluss. Im Moment ist es so, dass wir das ganz intensiv erleben. Die Veränderung, die gerade stattfindet, ist davon geprägt, dass Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, hierher kommen und hier anfangen zu leben. Es stimmt, dass sich dadurch definitiv etwas ändern wird, aber es hätte sich sowieso etwas geändert, das hat nicht unbedingt nur mit den Migranten zu tun.
Müssen wir vor Veränderungen Angst haben?
Man kann vor vielen Dingen Angst haben. Eine Veränderung ist im ersten Moment sicherlich unangenehm, das stimmt. Doch wenn das Gefühl von Unbehagen in Rassismus übergeht, dann ist definitiv etwas falsch gelaufen. Denn wir sind alle Menschen, wir haben alle etwas gemeinsam und, dass wir eine gemeinsame Linie finden werden, dass wir es schaffen werden, uns zu verständigen und zusammen zu leben, daran müssen wir festhalten! Ich möchte niemandem seine Gefühle absprechen und ihm sagen: „Das darfst du nicht fühlen!”, aber man darf sie auch nicht zu ernst nehmen. Schon gar nicht sollte man daraus eine Politik ableiten, sondern vielmehr darauf achten, wohin die Gefühle führen und wie man sie in einer konstruktiven Form verarbeiten kann. Mit der Gefühlskeule zu kommen und zu sagen: „Ich fühle mich nunmal so und damit endet die Diskussion.” funktioniert nicht. Ich weiß, das ist eine extrem große Herausforderung. Ich arbeite auch im Bereich Emotionsforschung und bin sehr daran interessiert, zu überlegen, welche emotionale Herausforderung die multikulturelle Gesellschaft hervorbringt und wie man einen positiven, konstruktiven Umgang damit finden kann. Denn ich finde es nicht besonders produktiv, wenn man, sobald Emotionen ins Spiel kommen, die Diskussion abbricht und sagt: „Wenn jemand Angst hat, dann muss man etwas tun, man darf keine Angst haben.” Stattdessen sollte man das, was man „Angst” nennt, genauer betrachten und verarbeiten. Handelt es sich tatsächlich um Angst oder um etwas ganz anderes? Erst nachdem diese Fragen geklärt sind, ist man bereit für den nächsten Schritt. Aber das ist wirklich ein sehr, sehr schwieriges Thema.
Wo fühlen Sie sich zugehörig?
In erster Linie fühle ich mich meiner Familie zugehörig, sprich meinem Mann und meinen Kindern, sie sind mein Zuhause. Obwohl die Kinder schon groß und aus dem Haus gezogen sind, gehören sie zum engsten Kreis, genauso wie unsere Eltern, die Großeltern. Für mich bilden diese Personen den engsten Kreis, dem ich mich zugehörig fühle.
Wo kommen Sie her?
Es ist witzig, wie aufgeladen diese Frage ist! Sie ist scheinbar so einfach und alltäglich, ich glaube, wir stellen diese Frage dauernd. Zu Beginn unseres Bindestrich-Deutsche-Projekts haben wir einen Film angeschaut mit dem Titel „Where are you from from?” Die Betonung liegt dabei auf „Wo kommst du wirklich her?”
In meinem Fall würde ich zunächst sagen, ich komme aus Stuttgart. Die Menschen, die mich ein bisschen kennen oder einen Akzent in meiner Sprache hören, fragen dann meistens nach: „Aber, wo kommen Sie denn wirklich her?” Dann kommt es darauf an, ob mein Gegenüber die kurze oder die lange Geschichte hören will, verlangt er nach der schnellen oder der komplexen Antwort? In solchen Momenten versuche ich kontextabhängig einzuschätzen, wie die Frage gemeint ist oder beantworte sie, je nachdem wie viel Lust ich gerade habe darauf einzugehen.
Die lange Antwort ist: Ich bin in den USA geboren, im Mittleren Westen, in einer mittelgroßen Stadt namens Tulsa, Oklahoma. Dort bin ich aufgewachsen, mein Vater stammt ursprünglich aus diesem Ort und ist dort geboren. Als er später als Soldat in Deutschland stationiert war, lernte er zu meine Mutter kennen. Sie gingen gemeinsam nach Oklahoma, um ein Leben zu beginnen und eine Familie zu gründen. Die erste Phase unserer Kindheit haben wir in Tulsa verbracht, später sind wir nach Kalifornien umgezogen. Darin liegt auch das Problem: mit dem Geburtsort reicht die Antwort nicht aus, weil man im Laufe des Lebens immer wieder umzieht. Letztendlich fühle ich mich Tulsa auch gar nicht mehr so zugehörig, da ich dort keine Verwandtschaft mehr habe und deshalb auch kaum noch hinfahre. Wenn ich in die USA fahre, um meine Familie zu besuchen, dann gehe ich nach Santa Cruz, Kalifornien. Also könnte ich auch sagen, ich bin aus Santa Cruz. Doch ich komme nicht wirklich daher, weil ich nicht lange dort gelebt habe. Nachdem ich meinen Bachelor in den USA absolviert hatte, bin ich nämlich nach Deutschland ausgewandert.
Ich habe eine überlappende Zugehörigkeit, denn ich bin halb deutsch durch meine Mutter und halb amerikanisch durch meinen Vater. Man könnte mich eine „Remigrantin” nennen, so werden vor allem Deutsch-Türken oder Türkisch-Deutsche genannt, die nach Istanbul zurückgehen, obwohl sie zuvor niemals dort gewesen sind. Vielleicht bin ich auch eine Art „Remigrantin”, da ich mich zu Beginn in Deutschland sehr fremd gefühlt habe. Zum damaligen Zeitpunkt war ich 22 Jahre alt, heute bin ich 49, das heißt, ich lebe schon länger in Deutschland, als ich in den USA gelebt habe. Dieser Moment hat für mich einen Kipp-Effekt, bei dem ich denke: „Okay, mehr als die Hälfte meines Lebens wohne ich schon hier. Heißt das, ich komme jetzt aus Deutschland? Oder werde ich für immer aus den USA kommen?” Das weiß ich nicht! Und das ist vom Gefühl her auch nicht immer leicht zu spüren. Wie Sie sehen, ist die Antwort auf diese Frage für mich immer mit einem Zögern verbunden.
Wo sehen Sie Ihre Heimat?
Für mich sind die Fragen nach der Zugehörigkeit, Heimat und „Wo kommen Sie her?” drei Arten eine im Prinzip ähnliche Frage zu stellen, die aber alle unterschiedliche emotionale Wirkungen haben. Heimat ist am ehesten mit diesem Herzgefühl verbunden, wo fühle ich mich Zuhause? In diesem Fall würde ich wahrscheinlich wieder auf die Familie zurückkommen und sagen: „Wo mein Mann ist, ist meine Heimat.” Er kommt ursprünglich aus Heidelberg, man könnte ihn als Deutsch-Deutschen bezeichnen. Seine Familie und seine Mutter stammen aus Heidelberg, sie sind dort sehr verwurzelt. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass wir eines Tages auch dort landen werden. Aber Heimat ist ein Begriff, der für so jemanden wie mich nicht häufig in den Mund genommen wird. Ich sage nicht von mir aus, wo meine Heimat ist. Für mich ist sie höchstens mit dem Gefühl von Zugehörigkeit verbunden.
Welcher Kultur fühlen Sie sich zugehörig? Ist es eher die deutsche oder die amerikanische Kultur?
Ich würde sagen, dass ich mich gleichermaßen beiden Kulturen vertraut und zugehörig fühle. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass ich mich in Deutschland so souverän und so normal bewege, dass ich sagen kann: „Ja, ich bin schon irgendwie deutsch.” Das stelle ich natürlich umso mehr fest, wenn ich in den USA bin und diese Fremdheitserfahrung in Kalifornien habe – dem Ort, von dem ich immer gedacht habe, das ist meine Heimat. Santa Cruz ist keine sehr große Stadt und es ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, dass man auf der Straße gegrüßt wird, auch, wenn man sich nicht kennt. Es ist immer dieses sich anschauen und begrüßen, dann merke ich: „Oh ja, stimmt, hier muss man permanent lächeln und „Hallo” sagen!” Da merke ich, wie deutsch ich eigentlich bin. Doch ich gewöhne mich schnell an diese Lebenseinstellung und wenn ich nach Deutschland zurückkomme, denke ich: „Hach, schon wieder diese schlechte Laune!” Bereits die Stewardessen im Flugzeug strahlen so eine miese Stimmung aus. Deswegen gefällt mir diese Idee, dass kulturelle Zugehörigkeit so ähnlich wie eine Gewohnheit ist. Es handelt sich um eine Eingewöhnung, die langsam aufgebaut wird, sich aber immer weiter festigt und permanent aufrechterhalten werden muss. Der Mensch ist veränderbar. Es gibt keinen kulturdeterministischen Ansatz, der besagt: Einmal Amerikanerin, immer Amerikanerin.