Argyris Sfountouris (75), Zürich | Athen
Griechenland, das Dorf Distomo, 10. Juni 1944: Ein Kind. Ein Tag wie jeder andere. Plötzlich ein abrupter Aufruhr, ein nicht greifbares Getöse. Ein Augenschein menschlichen Abgrunds.
Argyris Sfountouris sitzt an einem kalten Tag im Januar im Turm des Tübinger Schlosses, in der Bibliothek des Kulturwissenschaftlichen Instituts, einem Ort mit gedämpften Geräuschen und einer weiten Sicht. Er spricht über die Erlebnisse von damals und über die Zukunft von morgen.
Mit drei Jahren verlor er die Eltern und 30 Familienangehörige. Das Massaker von Distomo war eine Anwandlung schierer Aggression einer SS-Einheit, die nach einem Kampf mit Partisanen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs über 200 Dorfbewohner grausam zu Tode richtete.
Ein Kriegsverbrechen, das von deutscher Seite als “Sühnemaßnahme” deklariert wird. Argyris Sfountouris kämpft noch heute um Entschädigung und die Anerkennung dieses Vergehens. Wir sprechen mit ihm über die Vergangenheit, die Realität heute, seine Identität und das unverhoffte Aufwachsen zwischen zwei Kulturen.
Argyris Sfountouris kommt nach dem Massaker zunächst in ein Waisenhaus in Griechenland, das seinem psychischen und gesundheitlichen Zustand schwer zusetzt. Mit acht Jahren bringt ihn eine Rot-Kreuz-Delegation schließlich in die Schweiz, wo er in einem Kinderdorf, einem Ort für Kriegskinder, aufwächst.
Doch was geschieht mit der Identität eines Kindes, das auf dramatischste Weise die engsten Familienmitglieder verliert und fortan in einem unbekannten Land in einem Heim mit Kindern aus unterschiedlichen Kulturkreisen aufwächst?
Argyris Sfountouris und die anderen Kinder aus dem Kinderdorf haben sich ein eigenes kulturelles Kollektiv geschaffen, ein Kollektiv der Mehrsprachigkeit und der ethnischen Diversität mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl. Dabei hatte für Argyris Sfountouris besonders die Literatur einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung seiner kulturellen Identität. Schon früh hat er begonnen Lyrik zu übersetzen und entdeckte in einigen Werken, besonders in Goethes Prometheus, Parallelen zu seinem Leben und der Machtlosigkeit gegenüber göttlicher und menschlicher Hybris.
Später studiert Argyris Sfountouris Mathematik und Astrophysik in Zürich und wird Lehrer, Entwicklungshelfer, Übersetzer und Dichter. Bis heute führt er ein Leben zwischen zwei Ländern, zwei Nationen, zwei Kulturen. Doch wo fühlt er sich Zuhause?
Sowohl Griechenland als auch die Schweiz sind heute ein Heimatland für Argyris Sfountouris. Er findet in beiden geistige sowie emotionale Zuflucht und das Gefühl der Zugehörigkeit.
Dabei spricht er mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit von den Ereignissen der Vergangenheit, losgelöst von jeglichem Argwohn oder Verbitterung. Er hat einen Weg gefunden, das Geschehene anzunehmen und gleichzeitig für seine Überzeugung einzustehen. Denn bis heute kämpft er um die Anerkennung des Kriegsverbrechens und tritt in die Öffentlichkeit, um auf die Gräueltaten des Krieges aufmerksam zu machen. Dabei verweist er angesichts der Geschehnisse in Syrien einmal mehr darauf, dass es jetzt an der Zeit ist Menschlichkeit zu beweisen.
Argyris Sfountouris hat es geschafft, sich in eine neue Gesellschaft zu integrieren, neue Konventionen anzunehmen und gleichzeitig seine Herkunft nicht zu leugnen. Integration ist ein individueller und sozial herausfordernder Prozess, der keinem gleichförmigen Konzept entspricht. Was ist das Geheimnis einer erfolgreichen Integration?
Integration und Identität sind Prozesse, die stetig konstruiert werden. Die Vergangenheit gehört zur Gegenwart und es findet ein permanentes Transzendieren zwischen historischer Verankerung, Verlust und Wiederentdeckung statt. Ziel ist es immer kulturellen, religiösen und ideellen Unterschieden und Vorurteilen entgegenzuwirken. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass jeder seine Kultur bilden kann und muss, die aber aus einer gemeinsamen Wertebasis entsteht. Durch die Handreichung eines Referenz- und Bedeutungsrahmens ist es möglich, trotz unterschiedlicher historischer Erfahrungen einen gemeinsamen kulturellen Code zu entwickeln, in dem jedes Gesellschaftsmitglied seine Authentizität wahren kann.
Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen bringt viele Schwierigkeiten mit sich und erfordert Toleranz. Auch für Argyris Sfountouris war es nicht immer leicht, verschiedene kulturelle Gepflogenheiten zu vereinen. Ist diese Diversität also mehr eine Last als eine Bereicherung?
Argyris Sfountouris hat gelernt, die Vorteile des jeweiligen Kulturkreises zu schätzen und sich auf die positiven Eigenschaften eines Landes zu konzentrieren, anstatt sich über Unzulänglichkeiten zu ärgern. Uns hat er zum Abschluss ein Motto verraten, das nicht nur für Menschen mit einer Mehrfachzugehörigkeit den Ernst des Alltags lockern könnte:
Alles ist in Bewegung. Nichts ist perfekt.