Nathalie (25), Deutschland | Mexiko
Auf ein Picknick mit dem Tod
Nathalie Brümmer ist 25 Jahre alt, wohnt in Tübingen und feiert den Tod.
Es ist Ende März, die Luft riecht nach dem ersten warmen Regen. Nathalie schiebt die Totenköpfe auf ihrem Sims zur Seite und öffnet das Fenster ihres Studentenzimmers. „Endlich kann man wieder länger lüften, ich freue mich auf den Frühling!“ sagt sie.
Jahreszeiten sind in Deutschland ganz normal. In Mittelamerika ist es hingegen warm, immer. Nathalies Mutter ist Mexikanerin, ihr Vater deutsch, aufgewachsen ist sie in einem kleinen Dorf in Süddeutschland. Die Familie ihrer Mutter lebt in Mexiko, die ihres Vaters in Deutschland.
Wo ist deine Heimat?
Das ist schwer definierbar. Als ich klein war, war es immer sehr schlimm für mich von Mexiko nach Hause zu kommen. Da wir nur einmal im Jahr dort hingefahren sind, war es etwas ganz Besonderes. Ich wusste, wenn ich am letzten Schultag vor den Sommerferien nach Hause komme, egal welche Noten ich habe, wir werden gleich am nächsten Tag in den Flieger nach Mexiko steigen und alles wird gut. Für mich war es immer wie ein sechswöchiger Traum und in dieser Zeit habe ich Mexiko auch mehr als meine Heimat wahrgenommen. Warum das so war, kann ich nicht genau sagen.
Mittlerweile weiß ich, dass Deutschland meine Heimat ist. Der engste Teil meiner Familie und meine Freunde leben hier. Ich sehe sie fast täglich, ich erzähle ihnen alles, sie kennen mich und erleben mit mir Höhen und Tiefen.
Was bedeutet Heimweh für dich?
Ich habe eigentlich immer Heimweh. Heimweh heißt für mich, dass ich meine Familie und meine Freunde nicht sehe und wenn ich in Deutschland bin, vermisse ich, was ich in Mexiko habe und umgekehrt. Ich vermisse in Mexiko beispielsweise schnell die Ordnung und die Pünktlichkeit der Deutschen, die einem hier nicht wirklich auffällt, weil sie selbstverständlich ist. Wenn meine Mama in Mexiko sagt, sie kommt gleich wieder, kann es sein, dass sie in einer Stunde wieder da ist oder auch erst nachts.
Fühlst du dich in Deutschland zugehörig?
Ja, ich fühle mich eindeutig zugehörig. Jeder hat seine Rolle und ich bin eben die kleine Latina, das ist doch etwas Besonderes! Und ich versuche immer das Positive zu sehen. Es ist auch immer schön, etwas aus meiner anderen Kultur zu erzählen und meine Mitmenschen finden das meistens auch ganz interessant. Alles ist gut, so wie es ist. Also ich kann sehr gut damit leben!
Wie zugehörig fühlst du dich in Mexiko?
Ich finde, ich bin relativ gut integriert. Ich fühle mich beiden Nationen zugehörig. Aber ich muss sagen, dass ich weder hier noch dort als vollständig deutsch oder mexikanisch angesehen werde, das kann ich natürlich auch nicht. Lustig ist, dass man in Deutschland von mir als Mexikanerin spricht und mich dort als Deutsche bezeichnet. Und da kommt bei mir natürlich die Frage auf, was bin ich denn eigentlich? Das stellt doch meine Identität in Frage, oder? Klar, ich bin natürlich beides, aber es fühlt sich manchmal trotzdem komisch an, denn man gehört weder zu dem einen noch zu dem anderen.
Hast du schon mal bewusst darüber nachgedacht, was deine Identität bestimmt?
Ja, ich sage einfach immer, ich bin vom Atlantik. Wir haben früher im Spanischunterricht oft darüber gesprochen, dass Menschen mit einer Mehrfachzugehörigkeit häufig ein gewisses Identitätsproblem haben, deshalb habe ich schon früh über meine Identität nachgedacht. Mittlerweile werte ich für mich beide meiner Nationalitäten gleich. Aber ich muss auch sagen, dass die deutsche Kultur in mir überwiegt, hier bin ich schließlich aufgewachsen.
Definierst du deine Identität also über deine Nationalität?
Das stimmt wohl. Aber auch mein Umfeld spielt eine große Rolle, vor allem natürlich die Erziehung meiner Eltern, meine Erfahrungen und auch Werte, die mir vermittelt wurden. Deshalb ist auch der Glaube wichtig für mich. Wobei ich meinen Glauben aber ganz persönlich gestalte. Ich muss zum Beispiel nicht in die Kirche, um an Gott zu glauben.
Welche Rolle spielen der Glaube und traditionelle Bräuche in deinem Alltag?
Für uns Mexikaner ist der Tag der Toten am 1. und 2. November sehr wichtig, dann gehen wir zum Picknicken auf den Friedhof. Die Verstorbenen kommen aus dem Reich der Toten für einen Tag zurück und feiern mit den Lebenden. Am ersten Tag kommen die Kinder und am zweiten die Erwachsenen. Ich finde, das ist eine sehr schöne Tradition, denn wir fürchten den Tod nicht, sondern feiern ihn!
Alle gehen auf den Friedhof, nehmen Essen mit, um ein Picknick zu machen und bringen Geschenke für die Verstorbenen. Auch wenn sie nicht mehr leben, zeigen wir auf diese Weise, dass wir an sie denken.
Meine Familie hier in Deutschland geht am Tag der Toten nicht zum Picknicken auf den Friedhof. Aber für meine Mama ist es wichtig, einen kleinen Altar mit Bildern der Verstorbenen aufzubauen. Dort wird beispielsweise das Lieblingsgetränk des Verstorbenen aufgemacht und abgestellt. Einfach um zu zeigen, dass sie dennoch da und Teil unseres Lebens sind. Ich finde, das erleichtert einem die Trauer um einen verstorbenen Menschen.
Verbunden mit dieser Tradition sind natürlich auch viel Musik, gutes Essen und Totenköpfe, die wir selbst bemalen. Für uns Deutsche kann das vielleicht etwas skurril erscheinen, aber wenn man so aufwächst, lernt man damit umzugehen.
Natürlich fühlen wir denselben Schmerz, aber vor allem der Glaube hilft uns, auf eine spätere Begegnung mit den Verstorbenen zu hoffen. Er lässt einen nicht verzweifeln, denn man weiß, es kommt noch etwas nach dem Tod. Mir gibt das Kraft und Ruhe.
Welche Bedeutung haben die Totenköpfe?
In erster Linie sind sie als Dekoration gedacht. Sie zeigen, dass wir den Tod nicht zu ernst nehmen und als Teil des Lebens akzeptieren. Manchmal schreiben wir auch die Namen von Verstorbenen, aber auch von Lebenden darauf, um unsere Wertschätzung zu zeigen. Wir feiern den Tod. Totenköpfe gibt es bei uns in allen Variationen, zum Beispiel aus Keramik, aber auch aus Süßigkeiten wie Schokolade.
Wofür steht die Farbe Orange in Mexiko?
Orange ist eine sehr helle und leuchtende Farbe, die den Verstorbenen am Tag der Toten helfen soll, aus dem Totenreich ins Reich der Lebenden zu finden. Deshalb sieht man auch überall Ringelblumen (Flor de muertos: Blume der Toten), die Toten sollen sich an ihrem leuchtenden Orange orientieren.
Allgemein ist alles viel, viel farbenfroher in Mexiko und das drückt auch die Lebensfreude aus. Ich finde jeder Tag muss gefeiert werden!
Ist deine Mehrfachzugehörigkeit eine Last oder eine Bereicherung?
Für mich ist sie auf jeden Fall etwas Positives! Als mein Papa meine Mama in unser kleines Dorf mitgebracht hat, in dem eigentlich alle nur Deutsch oder gern auch nur Dialekt sprechen, musste sie sich erst mal zurechtfinden. Sie war für alle etwas ganz Besonderes. Viele waren auch skeptisch, denn wir sehen ja auch ein bisschen anders aus. Vor allem Kinder können da ganz schön grausam sein. Ich wurde zum Beispiel immer Pudding genannt, Schokopudding. Weil ich so braun und auch ein bisschen pummelig war. In solchen Momenten kann es dann auch mal schwierig sein. Insgesamt finde ich aber, dass mich meine Mehrfachzugehörigkeit sehr bereichert hat. Ich habe gelernt offener und toleranter zu sein.
Gibt es auch Momente, in denen du dich fremd fühlst?
Wirklich fremd fühle ich mich nie, manchmal ist die Umstellung etwas schwierig und ich muss mich erst wieder an die Eigenheiten des jeweiligen Landes gewöhnen. Meine Familie in Mexiko ermahnt mich anfangs oft, weil ich kühl oder distanziert wirke. Und wenn ich wieder zurückkomme, sagen alle: „Stop, Nathalie, jetzt schalte mal einen Gang runter!“ oder sie fühlen sich unangenehm berührt, wenn ich sie ständig anfasse, aber so macht man das eben in Mexiko! Mir würde das auch gar nicht auffallen, wenn es mir keiner sagt. Es ist auch schon häufiger passiert, dass ich ohne Hintergedanken Körperkontakt aufgenommen habe und viele das als Flirtversuch wahrgenommen haben. Die mexikanische Kultur steckt eben auch in mir, ich mache das total unbewusst. Und es ist natürlich etwas unglücklich, wenn die andere Person das falsch interpretiert und man plötzlich vor einem Dilemma steht, weil man sich eigentlich nur unterhalten wollte und mein Gegenüber das als Flirtversuch deutet. Also das ist mir schon öfter mal passiert und es war wirklich nie mit Absicht! Das sind vielleicht Momente, die sich ein bisschen komisch oder auch fremd anfühlen.