Interview mit Prof. Dr. Tanja Thomas
Tanja Thomas ist Professorin für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Transformationen der Medienkultur an der Universität Tübingen. Zu ihren zentralen Themengebieten zählen unter anderem Kritische Medien- und Kulturtheorien, Cultural Studies und Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft.
Tanja Thomas studierte Bildende Kunst, Kunsterziehung und Germanistik in Saarbrücken, Medienwissenschaft und Medienpraxis in Tübingen sowie Migration im Rahmen der Internationalen Frauenuniversität in Hannover. In ihrer Dissertation befasste sie sich mit der Konstruktion nationaler Identität im Fernsehtalk.
Wie definieren Sie für sich Identität?
Ich würde es vorziehen, wie Stuart Hall, von Identifikation zu sprechen. Denn das macht sehr viel deutlicher, dass wir nicht eine Identität haben, die unser ganzes Leben lang stabil ist, sondern dass wir uns identifizieren und es auch eine Parallelität von mehreren Identifikationen gibt. Zum Beispiel habe ich eine Vorstellung davon, wie ich mich als Professorin verstehe. Ich bin aber nicht nur Professorin, ich bin auch Tochter und Freundin und vieles mehr. Es gibt also je nach Situation verschiedene Identifikationen. Die Vorstellung einer Kohärenz dieser verschiedenen Identifikationen bezeichnet Stuart Hall als eine tröstliche Erzählung des Ichs über sich selbst. Ich glaube, in der persönlichen Erfahrung gibt es diese Kohärenz auch. Ich begreife mich ja nicht als völlig unterschiedliche Personen, wenn ich hier als Professorin sitze oder mit meiner Mutter in einem Mutter-Tochter-Gespräch bin. Zwischen diesen zwei Personen gibt es einen gewissen Zusammenhang, trotzdem ist die Identifikation unterschiedlich. Ich finde, es ist auch eine gewisse Art von Freiheit, sich nicht als die immer Gleiche zu verstehen.
Hat sich die Wahrnehmung Ihrer eigenen Identität durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema gewandelt?
Ja, da bin ich mir ganz sicher! Wenn man beginnt, darüber nachzudenken, wie man das geworden ist, was man ist und auch noch wissenschaftliches Instrumentarium dazu nimmt, wenn man sich klar macht, dass man eine Person ist, die ein Stück weit auch bestimmten Normen unterliegen muss, um das zu sein, was sie ist, dann bekommt man ein sehr differenziertes Verständnis von Identität.
Ist der Identitätsbildungsprozess für Sie etwas Aktives oder etwas, das man nicht immer beeinflussen kann?
Den Identitätsbildungsprozess kann man nicht beeinflussen, zumindest nicht in jedem Fall. Ich habe schon die Vorstellung eines handlungsfähigen Subjekts und ich denke nicht, dass ein Subjekt nur das Ergebnis von gesellschaftlichen Strukturen ist. Subjekte sind immer auch in der Lage, sich zu bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung zu setzen. Wie groß die Handlungsspielräume und die Möglichkeiten sind, variiert natürlich aufgrund von Zuschreibungsprozessen. Ich kann mir nicht immer frei aussuchen, wer ich sein möchte. Jedem Menschen wird etwas zugewiesen, zum Beispiel eine ethnische Zugehörigkeit. Wenn ich diesen Erwartungen nicht permanent entspreche, wird es schwierig. Die Vorstellung von einer Wahlbiografie oder Bastelexistenz unterliegt also bestimmten Restriktionen. Je nachdem, mit welchem ökonomischen Kapital man von Zuhause aus ausgestattet ist und welche Bildung man genossen hat, verändert sich der Handlungsspielraum. Wir wissen, dass Kinder mit Namen, die eindeutig auf eine Migrationsbiografie hinweisen, in der Schule kategorisch schlechter bewertet werden. Oder, dass Arbeiterkinder selten in der Universität landen. Das hat nichts mit Intelligenz zu tun, sondern damit, dass sie sich selbst möglicherweise nicht an der Universität sehen oder sich dort nicht zugehörig und ausgegrenzt fühlen. Für solche jungen Menschen ist es an der Universität sehr viel schwieriger als für Kinder einer Akademiker-Familie. Das ist natürlich eine Begrenzung von Handlungsspielraum. Ich kann mir meine Identität also nicht einfach aussuchen, weil sie in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingelagert ist.
Welche Rolle spielen die Medien bei der Identitätsbildung?
Ich glaube, es ist zweifellos, dass Medien auf sehr unterschiedliche Weise eine Rolle bei der Identitätsbildung spielen. In der Forschung werden verschiedene mediale Repräsentationen betrachtet, wie zum Beispiel die der Geschlechterbilder. Die Darstellung von Weiblichkeit in den Medien hat möglicherweise Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Vorstellung von Identität junger Frauen, die sich die Frage stellen: „Wie muss ich eigentlich sein, um akzeptiert zu werden?“ Ich denke, dass Medien eine bedeutsame Ressource bei der Identitätskonstruktion und auch bei der geschlechtlichen Identifikation sind. Eine wichtige Rolle spielt aber auch die Auseinandersetzung mit medialen Präsentationen, beispielsweise in der Familie. Aus Studien zu „Germany‘s Next Topmodel“ wissen wir, dass die Sendung ganz oft in Töchter-Mütter-Konstellationen oder im Freundinnenkreis geschaut wird. „Germany‘s Next Topmodel“ hat keine Narration, sodass man sich nebenher unterhalten kann, anders als bei einem Krimi. Es ist eine Sendung, zu der man sich treffen, Chips essen und die ganze Zeit lästern kann. Man kann es demnach gemeinschaftlich schauen und dabei werden die Vorstellungen von Weiblichkeit und Normorientierungen ausgehandelt.
Hat sich durch die neuen Medien der Einfluss auf die Identitätsbildung gewandelt?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt viele Gegenentwürfe zu dem sehr stereotypen Frauenbild. Wie wirkungsmächtig diese sind, ist die nächste Frage. Es gibt beispielsweise die Sängerin Beth Ditto, die sagt: „Ich bin nicht schlank und trotzdem eine Popikone“ und die sich in ihrer ganzen Beleibtheit auf die Bühne stellt. In den Massenmedien dominiert aber immer noch ein stereotypes Bild von Weiblichkeit: die schöne, schlanke, weiße Frau. Das erkennt man besonders gut an den Titelbildern von Zeitschriften. Trotzdem ist dieses Bild brüchig geworden. Insbesondere die digitalen Medien sind sehr viel offener geworden. Hier findet man auch Identitäten jenseits der binären Kategorien von Mann und Frau.
Erleichtert die größere mediale Auswahl den Identitätsfindungsprozess im Vergleich zu früher?
Das ist die Hoffnung! In den digitalen Medien gibt es bereits eine wahnsinnige Pluralisierung von Identitätsentwürfen, die ganz unterschiedlich ausfallen. Ich fürchte aber, dass Stereotype immer noch dominant sind. Das sieht man auch daran, wie vehement in den letzten zwei Jahren gegen eine Flexibilisierung von Geschlechtervorstellungen vorgegangen wird. Zum Beispiel in der Bildungsplandebatte, als es darum ging, gleichgeschlechtliche Paare in Schulen stärker präsent zu machen.
Welche Rolle spielen die Medien bei der Identitätsbildung von Menschen mit einer Mehrfachzugehörigkeit? Gibt es hier einen Unterschied?
Das ist vergleichsweise wenig untersucht worden. In der deutschen Forschung fragte man sich relativ lange, auch politisch motiviert, was Medien zur Integration von Migrantinnen und Migranten leisten könnten. Es gab eine Zeit lang ein starkes Paradigma: Es wurde diskutiert, ob es den türkischen Migranten helfe per Satellitenschüssel türkisches Fernsehen zu schauen oder ob das nicht der Integration schädlich sei. Müssten sie nicht deutsches Fernsehen schauen? Es wurde auch überlegt, verschiedene Bevölkerungsgruppen in Deutschland besser in den Medien zu repräsentieren. Deswegen wurden Sendungen wie die Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“ gelobt, die auch die junge Frau mit Kopftuch und einem anderen Glauben zeigt. Die Serie ist ein guter Beitrag, um die unterschiedlichen Menschen, die in Deutschland leben, sichtbar zu machen. Gleichzeitig ist sie aber auch schwierig, weil wieder Stereotype produziert werden.
Es stellt sich auch schon lange die Frage, ob wir nicht mehr Journalistinnen und Journalisten mit Migrationsbiografie in den Redaktionen brauchen. Sie können von anderen Erfahrungen berichten, erzählen möglicherweise auch andere Geschichten über Mehrfachzugehörigkeit und können neue Perspektiven aufzeigen. Leider wurde noch nicht sehr viel erreicht. Ich glaube, aktuell haben drei Prozent der Journalistinnen und Journalisten in den Redaktionen eine Migrationsgeschichte. Ich sage gerne „Geschichte”, da es oft Menschen sind, die zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die durch ihre familiäre Geschichte aber Migration erfahren haben, weil beispielsweise die Großeltern migriert sind. Das prägt die Menschen natürlich. Initiativen wie die „Neuen deutschen Medienmacher” versuchen, Journalistinnen und Journalisten mit und ohne Migrationsbiografie zu vereinen. Ihr Ziel ist es, eine größere Vielfalt in den Medien zu schaffen, zum Beispiel im Nachrichtenjournalismus oder in Fernsehserien. Die drei Prozent sind daher ziemlich wenig, es gibt noch viel zu tun! Dass sich dahingehend etwas ändern muss und hoffentlich auch wird, ist glaube ich offensichtlich, angesichts der gesellschaftlichen Veränderung durch Immigration. Es muss mehr Anerkennung und Akzeptanz für die Verschiedenheit innerhalb einer Gesellschaft geschaffen werden, ohne zu vereinheitlichen und ohne zu hierarchisieren.
Gibt es etwas, das Medien für mehr Offenheit tun können?
Ja, in dieser Richtung passiert auch schon einiges. Im sogenannten Quality TV gibt es viele Serien, die versuchen, Mehrfachzugehörigkeit zu transportieren und andere Geschichten zu erzählen. Viel gelobt ist in den USA derzeit die Serie „How to Get Away with Murder“, bei der erstmals eine schwarze Ermittlerin im Fokus steht. Sie ist Juristin und arbeitet als Anwältin, lehrt aber auch an der Universität und hält Vorlesungen. Die Serie wird in den USA gefeiert, weil sie zum ersten Mal eine schwarze Protagonistin präsentiert, die nicht exotisiert wird, sondern eine handlungsmächtige Figur ist. Es gibt aber auch die Serie „Transparent“, in der Lebensentwürfe vorgestellt werden, die jenseits von heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit konzipiert sind. Es gibt demnach bereits Angebote und man kann hoffen, dass über die Populärkultur eine Akzeptanz für Pluralität zustande kommt. Ich glaube aber, dass Medien nur ein Faktor neben vielen anderen sind, die die politische Agenda und gesellschaftlichen Prozesse beeinflussen. Zudem ist Quality TV meist Zielgruppenfernsehen. Ich denke, wenn mein Onkel zufällig in „Transparent“ hineingeriete, würde er wahrscheinlich relativ schnell die Serie wechseln. Man darf diese Art der Angebote auch nicht überschätzen, trotzdem würde ich sagen, dass eine Pluralisierung stattfindet.
Wo fühlen Sie sich zugehörig?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich fühle mich Menschen zugehörig, aber auch Erfahrungen. Zugehörig fühle ich mich keinem bestimmten Ort, wie dass vielleicht viele andere Menschen tun. Als Wissenschaftlerin bin ich mehr oder weniger zu einem nomadischen Leben gezwungen. Ich glaube, ich bin in den letzten 15-20 Jahren neun Mal umgezogen und das nicht nur innerhalb eines Ortes. Ich habe immer die Stadt gewechselt und bin zwischendurch auch im Ausland gewesen. Daher gibt es für mich nicht diesen einen Ort. Es gibt natürlich Orte, die ich besuche, weil ich Erinnerungen, Erfahrungen, Erlebnisse und bestimmte Menschen mit ihnen verknüpfe. Insofern bin ich sehr glücklich, dass das Haus meiner verstorbenen Großeltern mittlerweile meiner Tante gehört. An diesen Ort zu fahren und mich an bestimmte Erlebnisse zurückzuerinnern, macht auch einen wichtigen Teil davon aus, wie ich mich selbst verstehe. Sich zugehörig fühlen assoziiere ich aber auch mit eingeklammert sein, was sicherlich auch in meinem „Nomadendasein“ begründet ist. Gleichzeitig gibt Zugehörigkeit natürlich vielen Menschen Sicherheit und Vertrautheit, weil sie sich hier angenommen und Zuhause fühlen. Für mich ist das aber kein Ort, sondern ein Gefüge von Personen.
Woher kommen Sie?
Woher komme ich? Es gibt Regeln der Narration, auch über biografisches Erzählen, die mich sagen lassen würden: „Ich komme aus dem Saarland.“ Das ist die Antwort, die in einem normalen Gespräch von mir erwartet wird. Das Problem mit dieser Frage ist: Was sagt sie aus? Mich macht diese Frage immer etwas nervös, weil sie in der Regel verbunden ist mit: „Wo kommst du her, wann gehst du zurück?“ Diese Frage wird ganz vielen Menschen gestellt, die nicht als deutsch angesehen werden. „Wo kommen Sie eigentlich her? Sie kommen doch nicht aus Deutschland! Und wann gehen Sie zurück?“ Das macht mich auch deshalb ein bisschen nervös, weil es als selbstverständlich angesehen wird, dass Deutschsein auch weiß sein impliziert. Wenn eine „Person of Colour“ sagt: „Ich bin Deutsche“, dann sind zunächst alle irritiert und sagen: „Wie?!“ oder: „Sie sprechen aber gut deutsch!“ Deswegen zögere ich bei der Antwort, weil ich mich frage, was ist damit eigentlich gemeint? Man kann darüber natürlich eine Vergemeinschaftung herstellen, zum Beispiel, wenn man aus demselben Ort kommt. Das ist aber eine Unterstellung von Gemeinsamkeit, die möglicherweise gar nicht zutrifft. Es ist häufig eben auch eine Platzzuweisung. Mir passiert das ganz oft, nachdem ich vier Wochen in der Sonne war. Dann werde auch ich gefragt: „Und wo kommst du eigentlich her?“ Das finde ich immer ziemlich lustig.
Und wo ist Ihre Heimat?
Auch mit dem Begriff Heimat habe ich Probleme, denn Heimat ist für mich etwas ganz diffuses. Ich weiß, es gibt akzeptierte und etablierte Redeweisen: „Heimat ist da wo meine Freunde sind.“ Das ist die Verlegenheitslösung, wenn man keinen Ort benennen will. Ich kann aber mit dem Begriff nicht viel anfangen. Wenn ich mich zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff hinreißen lasse, würde ich Heimat im weitesten Sinne mit Vertrautheit assoziieren und das gibt es für mich an mehreren Orten.