Third Culture Kid
Ein Leben zwischen den Kulturen
Woher kommst du? Eine simple Frage mit der jeder Mensch im Laufe seines Lebens mindestens einmal konfrontiert wird. Für viele mag die Antwort auf der Hand liegen, doch Menschen, die in mehreren Kulturen aufgewachsen sind, bereitet sie regelrecht Kopfschmerzen. Was meint mein Gegenüber damit? Den Ort, an dem ich gerade lebe? Wo meine Eltern leben? Wo ich geboren bin? Oder wo ich aufgewachsen bin?
Der Begriff „Third Culture Kid“ (TCK) wurde erstmals um 1960 von den Soziologen und Anthropologen Dr. John Useem und Dr. Ruth Hill Useem verwendet. Als TCKs werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, die in einer anderen Kultur aufgewachsen sind als ihre Eltern. Die offizielle Definition des Begriffs lautet: Ein Third Culture Kid ist eine Person, die einen bedeutenden Teil ihrer Entwicklungsjahre außerhalb der Kultur ihrer Eltern verbracht hat. Ein TCK baut Beziehungen zu allen Kulturen auf, nimmt aber keine davon völlig für sich in Besitz. Zwar werden Elemente aus jeder Kultur in die Lebenserfahrung des TCKs eingegliedert, aber sein Zugehörigkeitsgefühl bezieht sich auf andere Menschen mit ähnlichem Hintergrund.
TCKs sind demnach Kinder, die ihre Eltern in eine andere Gesellschaft begleiten. Dafür kann es die unterschiedlichsten Beweggründe geben: Einige Eltern sind beruflich im internationalen Geschäftsleben, im diplomatischen Dienst, beim Militär oder für Missionsgesellschaften tätig. Andere wiederum haben im Ausland studiert oder infolge von Krieg und Unruhen ihr Heimatland verlassen.
Aufgrund des häufigen Ortswechsels wachsen TCKs in einer Weder-Noch-Welt auf, denn es ist weder ganz die Welt der Kultur ihrer Eltern noch ganz die Welt der anderen Kultur, in der sie leben. Vielmehr bilden sie sich eine eigene Zwischenkultur, in der es zu einer Verschmelzung der verschiedenen Kulturen kommt.
Die Frage nach dem Zuhause ist für TCKs nichts geografisches, sondern vielmehr ein emotionaler Ort. Ihr Zuhause definiert sich vor allem durch ihre Beziehungen.
Herausforderungen und Chancen eines TCKs
Wenn ein Baum zu oft verpflanzt wird, kann er keine tiefen Wurzeln schlagen. So ähnlich verhält es sich auch mit einem Kind, das zu oft umgezogen ist. Es kommt nicht selten vor, dass TCKs kein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können und unklare Loyalitäten gegenüber ihren Heimat- und Gastländern aufweisen. Welcher Seite gehörst du an? Diese Unbestimmtheit führt dazu, dass TCKs auf ihre Mitmenschen häufig unpatriotisch oder arrogant wirken. Zudem wissen TCKs oft erschreckend wenig über ihre nationale, lokale oder sogar familiäre Geschichte Bescheid.
Trauer und Melancholie prägen oftmals das Leben eines TCKs, denn viele von ihnen haben Krieg miterlebt oder waren mit dem Schmerz einer Evakuierung, mit dem Verlust ihrer Welt, ihrer Schule oder ihrer Freundschaften konfrontiert. Eine weitere Herausforderung ist die Beherrschung der (vermeintlichen) Muttersprache. Wird in einer Familie keine gemeinsame Sprache gesprochen, die vielschichtige Emotionen und tiefe Gedanken ausdrücken kann, so verliert diese ein substantielles Werkzeug zur Bildung von engen und vertrauten Beziehungen.
Das Aufwachsen in mehreren Kulturen bringt jedoch nicht nur eine Menge an Herausforderungen mit sich, sondern auch eine Fülle an Vorteilen und Möglichkeiten. So zeichnen sich TCKs vor allem durch ihre Zwei- oder Mehrsprachigkeit aus. Diese Fähigkeit hilft ihnen, nicht nur auf emotionaler, sondern auch auf verbaler Ebene Brücken zwischen verschiedenen Gruppen zu schlagen. Aus diesem Grund sind erwachsene TCKs besonders qualifiziert im Bereich der Lehren oder des Mentoring.
Dadurch, dass sie in einer Vielzahl von Ländern und Kulturen aufgewachsen sind, konnten sie hautnah geografische Unterschiede weltweit beobachten und zeitgleich lernen, wie Menschen das Leben aus verschiedenen philosophischen und politischen Perspektiven betrachten. Beispielsweise ist die westliche Kultur zeit- und aufgabenorientiert, wohingegen in östlichen Kulturen zwischenmenschliche Beziehungen einen höheren Stellenwert einnehmen. TCKs lernen bereits in einem frühen Alter, dass es immer mehr als eine Möglichkeit gibt dieselbe Sache zu betrachten. Allerdings eröffnet sich für sie nicht nur ein erweiterte Weltsicht, sondern auch eine dreidimensionale Perspektive. Ihre vielschichtigen Erfahrungen an Orten, Gerüchen, Lauten und Situationen helfen ihnen ein Leben lang dabei, die geruchlosen Bilder im Fernsehen oder in Zeitungen umzuwandeln in eine innere 3D-Panorama-Show. Diese Begabung ermöglicht ihnen das Gefühl zu haben, als wären sie selbst direkt vor Ort.
Ein weiterer wesentlicher Vorteil, der das Leben als TCK mit sich bringt, ist die Anpassungsfähigkeit. Aufgrund ihrer häufigen Reisen und Ortswechsel lernen sie flexibel zu denken und können oft unvorhersehbare Dinge abfedern, sogar in ungewöhnlichen Situationen. Auch beherrschen sie die Kunst im Hier und Jetzt zu leben, da sie wissen, wie kurzlebig alles sein kann.
Das kulturelle Chamäleon
So unterschiedlich wie die Menschen sind, so vielseitig ist auch jedes TCK an sich. Für manche war es besonders schwer als TCK aufzuwachsen, für andere hingegen sehr leicht. Es sind jedoch charakterliche und emotionale Grundstrukturen zu erkennen, die jedes TCK in sich vereint. Die hohe Mobilität spielt dabei eine wesentliche Rolle. Jedes Kommen und Gehen bringt neue Begrüßungen und Abschiede mit sich – und neue Anpassungen. Es gibt eine Reihe von Verhaltensmustern oder Reaktionen auf das Leben, die daraus entspringen, dass TCKs zwischen den Kulturen und mit einer hohen Mobilität aufgewachsen sind. So haben die meisten das Gefühl, mit Menschen und Orten in aller Welt zutiefst verbunden und doch zugleich von ihnen getrennt zu sein.
Literatur: David C. Pollock, Ruth E. Van Reken, Georg Pflüger: „Third Culture Kids. Aufwachsen in mehreren Kulturen.“