Ngoc Hung Pham (54), Vietnam | Deutschland
Woher kommen Sie?
Ich komme ursprünglich aus einem kleinen Dorf namens Xuan Duong, das liegt ungefähr 70 Kilometer südöstlich von der Hauptstadt Vietnams entfernt. Nach meiner Ausbildung zum Schiffskapitän bin ich dann in die Küstenstadt Hai Phong gezogen, vielen bekannt für die berühmte Ha Long Bay.
Seit wann leben Sie in Deutschland?
Ich bin im Juni 1992 nach Deutschland gekommen, das bedeutet, ich lebe nun seit über 24 Jahren hier.
Was hat Sie zu Beginn der 90er Jahre dazu bewegt nach Deutschland auszuwandern?
Ich bin aus politischen Gründen von Vietnam nach Deutschland geflohen. Damals wie heute besteht Vietnam aus einer Einheitspartei, nämlich der Kommunistischen Partei Vietnams. Die Verfassung lässt Grundrechte wie die Pressefreiheit oder Glaubensfreiheit zu, allerdings werden diese stark durch die staatliche Zensur und Kontrolle der Kommunistischen Partei eingeschränkt. Zudem sind auch keine Oppositionsparteien erlaubt. Man kann sich also entweder mit der Regierungsform abfinden oder man lehnt sich dagegen auf. Ich habe Anfang der 90er Jahre an vielen Demonstrationen teilgenommen, die auf die Politik Vietnams aufmerksam machten. Es war aber gefährlich, eine andere Meinung als die der Kommunisten zu vertreten. Viele Gegner wurden ins Exil gebracht, von der Gesellschaft verstoßen oder sogar ins Gefängnis gesteckt. Als die Situation auch für mich kritisch wurde, habe ich versucht in Deutschland ein neues Zuhause zu finden.
Meiner Meinung nach gibt es drei Ursachen, die einen Menschen dazu veranlassen, sein Heimatland zu verlassen – denn freiwillig tut das niemand. Erstens ist es aufgrund von Krieg, zweitens aufgrund der vorherrschenden Politik im Land und drittens aufgrund einer Hungersnot. Wie sollen diese Menschen weiterhin in ihrer Heimat (über)leben?
Wie schwer war es für Sie, Ihre ganze Familie mit Frau und Kind in Vietnam zurückzulassen?
Die Entscheidung, alleine nach Deutschland zu fliehen, fiel mir natürlich extrem schwer. Meine Frau und mein Kind in Vietnam zu lassen fühlte sich an, als hätte man mir ein Körperteil abgetrennt, das ich nun zurücklassen musste. Am Abend vor meiner Flucht waren wir noch eine Familie, wir haben gemeinsam zu Abend gegessen und am nächsten Tag waren meine Frau und mein Kind nur noch zu zweit, ohne Vater und ohne Ehemann. Und ich war allein. Meine Tochter war zu dieser Zeit noch keine zwei Jahre alt. In späteren Briefen, die mir meine Frau nach Deutschland geschickt hatte, erzählte sie mir, dass unsere Tochter ständig nach mir fragte und wann ich denn wiederkommen würde. Das waren die Momente, die mir oft eine Träne entlockten. Ich wusste, dass mich die beiden in Vietnam mindestens genauso vermissten und setzte alles daran, dass wir uns bald wiedersehen würden. Im Dezember 1992 sind meine Frau und mein Kind schließlich nach Deutschland nachgekommen.
Es gibt niemanden, dem es leicht fällt seine Heimat zu verlassen, denn dort ist die Familie, die Verwandtschaft, die vertraute Muttersprache, die gewohnten Traditionen und Umgangsformen. Deutschland ist für mich eine komplett andere Welt, noch heute. Hier ist jede Familie eher unter sich, lebt in ihrem eigenen Haus, es gibt nicht dieses übliche Beisammensein wie in Vietnam.
Wenn man noch jung ist, weiß man die Heimat vielleicht nicht so zu schätzen. Doch im Alter vermisst man sie umso mehr. Ich bin in Vietnam geboren und aufgewachsen, habe sehr viel Zeit und Kraft in dieses Land investiert. Schon mit Anfang 20 habe ich unser Elternhaus renoviert, ein Haus in Hai Phong gebaut und mir ein Schiff gekauft. Bis heute habe ich eine starke Verbindung zu Vietnam und es wird auch immer meine Heimat bleiben. Meine Kinder spüren diese enge Bindung nicht, da sie nicht dort aufgewachsen sind, aber ich werde immer mit diesem Land verbunden sein.
Wie verlief Ihre Auswanderung nach Deutschland?
Die Reise musste von Vietnam aus organisiert werden. Dabei habe ich mich einer Gruppe von Flüchtlingen angeschlossen, die Vietnam auch verlassen wollten. Zunächst sind wir mit dem Flugzeug von Hanoi bis nach Russland geflogen, in die Nähe von Moskau. In Russland gab es wiederum eine Organisation, die uns die Weiterreise nach Polen ermöglicht hat. Von Russland aus waren wir dann nur noch mit dem Zug oder zu Fuß unterwegs. Dabei haben wir viele Wälder und Flüsse überquert, sind vor allem nachts gewandert und haben in alten Hütten und Bauernhöfen übernachtet. In Polen haben sie uns mit dem Auto in ein Waldstück gefahren, von dort aus war es noch eine 9-stündige Wanderung bis nach Berlin, sie begann gegen 19 Uhr abends und endete am nächsten Tag um 4 Uhr morgens.
Für mich war diese Reise bereits anstrengend, doch für meine Frau waren die Bedingungen noch schwieriger. Sie und meine Tochter kamen im Winter nach Deutschland und mussten dieselbe Route zurücklegen. Unterwegs hatten sie sämtliche Taschen und persönliche Gegenstände verloren, sie hatten nichts mehr außer sich selbst. Meine Tochter hatte beispielsweise keine Kleidung mehr, war in Russland viel zu leicht angezogen und sagte zu meiner Frau: „Mama, Nadeln stechen in meine Füße!“ Damit meinte sie den Schnee, den sie in Russland zum ersten Mal sah und der ihre Füße in kleine Eisklötze verwandelte. Auch war es zu diesem Zeitpunkt immer dunkel im Wald und man musste aufpassen, nicht auf der Strecke zu bleiben – was als Frau mit einem zweijährigen Kind umso schwieriger ist. Zum Glück gab es in Polen viele hilfsbereite Menschen, die Kleider gespendet haben.
Insgesamt hat die Reise von Hanoi bis nach Berlin 4 Wochen gedauert, denn wir mussten einen Großteil der Strecke zu Fuß zurücklegen und waren von vielen zusätzlichen Faktoren abhängig, wie von Organisatoren oder Genehmigungen zur Weiterreise. Unter den Flüchtlingen gab es nicht nur Vietnamesen, sondern auch Türken, Chinesen, Russen, Inder, Pakistani und viele andere, allerdings konnte ich es damals schwer einschätzen, aus welchen Ländern sie alle kamen.
Wie gestaltete sich der Migrations- und Integrationsprozess? Haben Sie sich in Deutschland willkommen gefühlt?
Ja, ich habe mich hier tatsächlich willkommen gefühlt. Der Grund, weshalb ich mich überhaupt für Deutschland als Auswanderungsland entschieden hatte, war mein Bruder. Er kam als Jugendlicher hier her und arbeitete bereits für ein deutsches Unternehmen in Süddeutschland, als ich nachkam. Deshalb hatte ich zumindest schon mal eine Bezugsperson hier.
Nach unserer Ankunft kamen wir in ein Asylheim, wo wir Essen und Trinken bekamen, etwas zum Anziehen und ein bisschen Geld zum Leben. Die ersten drei Monate verbrachten wir in drei verschiedenen Asylheimen: Heilbronn, Neckarsulm und Holzgerlingen. Als unsere Familie in Holzgerlingen ankam, erhielten wir den Status der Aufenthaltsgestattung, was bedeutete, dass wir für die nächsten 6 Monate in Deutschland bleiben durften. Daraufhin suchten meine Frau und ich uns eine erste Arbeit und besuchten Deutschkurse, um die Landessprache zu lernen. Eine Freundin, die wir im Asylheim kennengelernt hatten, hat in dieser Zeit auf unsere Tochter aufgepasst.
Der Aufenthaltsstatus eines Migranten gestaltete sich damals wie folgt: zunächst erhielt man eine Aufenthaltsgestattung, danach eine Aufenthaltsbefugnis und schließlich eine Aufenthaltserlaubnis. Es war nicht einfach diese verschiedenen Stadien zu durchlaufen, denn man musste sich durch viele Instanzen kämpfen und all das Geld, das man verdiente, in einen guten Rechtsanwalt investieren. Doch ich hatte gute Chancen, da politische Verfolgung ein schwerwiegender Grund für eine Auswanderung ist. Zudem fing ich sofort an zu arbeiten und belegte sehr viele Deutschkurse. Nur auf diese Weise war es möglich, letztendlich dauerhaft hier bleiben zu dürfen.
Gab es in den ersten Jahren genügend Unterstützung für Sie?
Ja, sowohl auf staatlicher als auch auf menschlicher Ebene gab es viele Arten der Unterstützung für uns Asylbewerber. Man kann sagen, dass es eindeutig mehr Helfer als Verfechter gab. Auch viele Kirchenmitglieder haben uns in den ersten Jahren unterstützt, das ist auch mit ein Grund, weshalb meine Familie später zum Christentum konvertiert ist.
Wie wohl fühlen Sie sich heute in Deutschland?
Ich fühle mich hier in Deutschland schon sehr wohl. Vor allem im Hinblick auf das Wetter, die Straßen, Infrastruktur, Architektur und die Arbeit können wir uns wirklich sehr glücklich schätzen. Ich war schon immer sehr zielstrebig und habe es mir zur Aufgabe gemacht, eines Tages denselben Lebensstandard zu erreichen, wie Deutsche, die hier geboren und aufgewachsen sind. Wenn man ein vergleichbares Leben führen kann und nicht ständig das Gefühl bekommt, anders zu sein, sei es in äußerlicher oder gesellschaftlicher Hinsicht. Wenn man auf derselben Augenhöhe ist wie die Deutschen, dann fühlt man sich hier auch wohl. Dann wird man nicht ausgegrenzt oder bekommt das Gefühl, man würde nicht dazugehören.
Fühlen Sie sich nach über 20 Jahren in Deutschland noch fremd?
Ja, diese Momente habe ich immer wieder. Auch wenn ich 50 Jahre hier leben würde, würde ich immer noch denken, dass ich ein Vietnamese bin, der in Deutschland lebt. Ich beherrsche die deutsche Sprache nicht so gut wie die vietnamesische. Ich kann keine tiefergehenden Gespräche führen, wie das auf Vietnamesisch der Fall ist. Bei meinen Kindern ist das anders, sie sind hier aufgewachsen und teilweise auch hier geboren. Für sie mag das die Heimat sein, für mich ist Deutschland aber eher ein aktueller Wohnort, an dem ich mich gerade befinde.
Ertappen Sie sich manchmal dabei, deutsche Angewohnheiten übernommen zu haben?
Ich denke, ich habe mich mittlerweile sehr gut anpasst. Eine meiner herausragenden Eigenschaften ist auf jeden Fall die Pünktlichkeit. Ich bin nie zu spät, sondern immer ein paar Minuten früher dran. Von meinen Gewohnheiten her bin ich bestimmt nicht zu 100% deutsch, aber ich strebe an, mich zu 99% anzupassen. An der deutschen Kultur schätze ich vor allem die Genauigkeit und das Maß an Qualität.
Kochen Sie überwiegend vietnamesische oder deutsche Gerichte?
Bei uns Zuhause wird sehr ausgewogen gekocht, ich würde sagen halb-halb. Es kommt natürlich auch immer darauf an, was die Kinder gerne essen. Meine Kinder essen zum Glück genauso gerne deutsches wie vietnamesisches Essen. So gibt es bei uns an einem Tag Sommerollen und am nächsten Tag vielleicht einen Rinderbraten mit Spätzle. In beiden Kulturen gibt es viele leckere Gerichte, die wir in unseren Alltag integrieren. Meine Frau und ich sind kulinarisch sehr vielseitig interessiert. Wir probieren gerne neue Gerichte aus, nicht nur deutsche und vietnamesische, sondern gerne auch mal etwas Italienisches oder Chinesisches.
Hören Sie vietnamesische Musik oder schauen Sie vietnamesisches Fernsehen und vietnamesische Nachrichten?
Ja, ich schaue täglich vietnamesisches Fernsehen und lese auch vietnamesische Nachrichten auf meinem Smartphone. Vietnamesische Musik höre ich eher weniger. Für mich ist es wichtig, die vietnamesischen Nachrichten mitzuverfolgen, sei es über das Fernsehen oder die Handy-App. Ich möchte mich darüber informieren, was auf der anderen Seite der Welt so passiert. Es fällt mir auch leichter, die Nachrichten auf vietnamesischer Sprache zu verstehen. Doch vor allem geht es mir darum zu erfahren, was in Vietnam gerade so los ist.
Wie denken Ihre Familie und Freunde in Vietnam darüber, dass Sie im Ausland leben?
Meine Freunde beneiden mich darum, dass ich in Deutschland arbeiten und leben kann. Doch keiner von ihnen ist selbst schon einmal hier gewesen. Es gibt Familienmitglieder, die bereits hier waren und mich und meine Familie im Alltag gesehen haben. Diese Personen wissen, dass Deutschland kein Schlaraffenland ist. Meine Frau und ich haben immer hart gearbeitet, das können sich viele Leute in Vietnam gar nicht vorstellen. Hier arbeiten wir viel mehr, als die meisten Vietnamesen Zuhause. Unser Lebensstandard kommt nicht von ungefähr, doch das verstehen die Menschen in Vietnam nicht. Sie denken, man wird automatisch reich, wenn man in Deutschland lebt. Verglichen mit Vietnam mag der Euro viel wert sein, doch gibt man das Geld hier aus, hat das natürlich eine ganz andere Gewichtung.
Hatten Sie manchmal oder haben Sie noch Heimweh nach Vietnam?
Ja, natürlich. Der Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist, mit dem ist man das ganze Leben verbunden. Je älter man wird, desto mehr vermisst man die Heimat. Je einsamer man sich fühlt, desto mehr Heimweh hat man. Wenn man abgelenkt ist und die Familie bei sich hat, dann ist Heimweh kein Problem. Doch zu den einsamen Zeiten zeigt sich das Heimweh ganz besonders. Im Vietnamesischen gibt es ein Lied mit dem Zitat: „Wer die Heimat nicht vermisst, kann nicht erwachsen werden.“
Wie ist es für Sie, zu Besuch oder im Urlaub nach Vietnam zurückzukehren?
Meine Familie und Freunde wollen natürlich, dass ich so oft wie möglich nach Hause komme. Es ist immer etwas Besonderes, nach Vietnam zurückzugehen. Ich kann natürlich nicht jedes Jahr dorthin fliegen, einerseits aus finanziellen Gründen und andererseits ist man in seinen Urlaubstagen beschränkt. Außerdem gibt es noch viele andere Länder zu entdecken, weshalb ein jährlicher Urlaub in Vietnam auch nicht möglich ist.
Doch wenn ich nach Vietnam gehe und meine Familie, Freunde und engste Bekannte wiedersehe, habe ich das Gefühl, ich hole etwas nach, das ich hier in Deutschland verpasst habe. Es ist immer schön, sie alle wiederzusehen. Auf der anderen Seite freuen sie sich auch, mich wiederzusehen. Es kommen immer viele Leute zum Flughafen, um mich abzuholen.
Können Sie sich vorstellen eines Tages wieder nach Vietnam zurückzuziehen?
Ich kann mir gut vorstellen, dass ich, je nach Möglichkeit, im Alter zwischen Deutschland und Vietnam hin und her pendle. Meine Wunschvorstellung ist es, für ein paar Monate in Vietnam und für ein paar Monate in Deutschland zu leben. Ich würde also nicht vollständig nach Vietnam zurückkehren, aber wieder für eine längere Zeit dort leben.
Wie beurteilen Sie als ehemaliger Flüchtling die derzeitige Flüchtlingssituation?
Ich habe natürlich eine große Empathie für diese Menschen, die jetzt aus ihren Heimatländern fliehen müssen. Diese Menschen verlassen nicht ohne Grund ihre Heimat! Die meisten wurden vertrieben oder mussten aufgrund von Krieg ihr Zuhause verlassen. Natürlich sollte jeder anpacken und mithelfen, soweit es ihm möglich ist. Ich kann mir sehr gut vorstellen, in welcher Situation sich die Flüchtlinge befinden, denn ich habe das auch alles durchgemacht. Meine Familie und ich hatten eine lange Reise hinter uns, bis wir endlich in Deutschland ankamen. Ich hoffe, dass die Menschen um uns herum nicht nur das Negative an Flüchtlingen sehen, sondern auch ihr Potential, das sie für das Land mitbringen, und dass sie sich definitiv anpassen können.
Haben Sie es jemals bereut, dass Sie nach Deutschland ausgewandert sind?
Man wägt natürlich hin und wieder ab, was die Migration in ein neues Land gebracht hat. Wenn ich mir meine Freunde in Vietnam ansehe, muss ich feststellen, dass sie ein deutlich bequemeres Leben führen als ich. Die meisten von ihnen sind bereits pensioniert, obwohl sie dasselbe Alter haben wie ich. Sie müssen nicht bis zum 65. Lebensjahr 10-12 Stunden am Tag arbeiten, sechs Tage die Woche.
Durch die Auswanderung habe ich viele gute Augenblicke verloren. Ich habe Hochzeiten, Geburten und Familienfeste versäumt und meine Geschwister und meine Mutter in Vietnam zurückgelassen. Das ist schon ein heftiger Verlust. Ich habe mich hier in Deutschland extrem durchschlagen müssen, bis wir unseren jetzigen Lebensstandard erreicht haben. Wäre ich in Vietnam geblieben, wäre ich jetzt wahrscheinlich auch schon in Rente, wie meine Freunde. Auf der anderen Seite weiß ich, dass das Auswandern auf besonders für meine Kinder ein riesiges Glück ist. Die Kinder meiner Freunde können nicht um die Welt reisen, obwohl ihre Eltern viel mehr Geld haben als unsere Familie. Sie haben nicht die reiche Vielfalt an Möglichkeiten und Chancen, die meine Kinder hier als deutsche Staatsbürger genießen.