Thu Ha (25), Deutschland | Vietnam
„Man kann sich nicht aussuchen, wo man geboren und als Kind aufwachsen wird. Man kann aber stets versuchen, das Beste daraus zu machen.“
Als Mitbegründerin dieses Blogs ist es mir ein Anliegen, mich und meine Geschichte vorzustellen. Mein Name ist Thu Ha, ich bin 25 Jahre alt und studiere Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Gemeinsam mit meinen Freundinnen und Kommilitoninnen Anja und Verena führe ich diesen Blog, der gleichzeitig unsere Masterabschlussarbeit darstellt.
1992, damals war ich zwei Jahre alt, ist meine Mutter mit mir von Vietnam nach Deutschland ausgewandert. Sechs Monate zuvor ist mein Vater aufgrund von politischen Unruhen im Norden Vietnams nach Deutschland geflohen. Mehr dazu erzählt er in einem gesonderten Blogbeitrag hier auf Kultur Konfetti. In den ersten Monaten und Jahren lebten meine Eltern und ich in verschiedenen Asylheimen in Süddeutschland. Ich habe kaum Erinnerungen an diese Zeit, denn ich war noch sehr jung, aber Bilder zeugen von einer überaus glücklichen Kindheit.
Meine Eltern erzählten mir, dass ich ausgeflippt sei, als ich an unserem ersten Tag in Deutschland eine Tankstelle entdeckte: „Mama, Mama! Hier ist es so schön! Schau dir mal die ganzen Lichter an!“ stammelte ich damals auf Vietnamesisch. Mit meinen zwei Jahren war ich bereits vielen anderen Kindern in meinem Alter voraus. So schickten mich meine Eltern in Vietnam schon zum Einkaufen, natürlich nur in das Haus nebenan. Als ich in Deutschland zum ersten Mal ein richtiges Bett mit Matratze sah, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, stürmte auf das Bett zu und hüpfte so lange auf und ab, bis ich müde wurde und schließlich einschlief. Das sind die Freuden eines Kindes, das die ersten Lebensjahre in einer komplett andersartigen Kultur verbracht hat.
Mit fünf Jahren zogen wir nach Bad Urach. Zu diesem Zeitpunkt wurde unsere Aufenthaltsgenehmigung auf unbefristete Zeit verlängert und meine Eltern erklärten mir, dass wir nicht mehr umziehen mussten, sondern nur noch, wenn wir es tatsächlich wollen. Ich war froh und traurig zugleich, denn einerseits hatte ich im Asylheim viele internationale Freunde, die ich nun zurücklassen musste, andererseits hatten wir endlich unsere erste eigene Wohnung und ich wusste, wir würden nicht mehr umziehen müssen.
Ein Jahr später kam meine Schwester auf die Welt, meine Eltern arbeiteten für deutsche Unternehmen, machten ihre Führerscheine, belegten weiterhin Sprachkurse und integrierten sich immer mehr in die deutsche Kultur und Gesellschaft. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich damals im Asylheim zu meinen Eltern sagte: „Mama, Papa, werden wir eines Tages auch ein Auto besitzen?“ Zur damaligen Zeit war das einzige „Fahrzeug“ in unserem Haushalt mein altes Dreirad, das wir vom Sperrmüll aufgesammelt hatten. Etliche Kilometer schoben mich meine Eltern damit, an der Schiebestange hingen zusätzlich die Einkaufstüten.
Die Zeit in Bad Urach war für mich eine schöne Zeit. Sowohl im Kindergarten als auch in der Grundschule gab es viele Kinder, die auch einen Migrationshintergrund hatten. Nie hatte ich mich jemals unwohl gefühlt zwischen Buket, Tizi und Samia, denn was sind schon ausländische Namen? Ich habe immerhin auch einen. Es waren vielmehr die Erwachsenen, die den Unterschied hervorhoben. Einmal brachte ich Bücher in die Schulbücherei zurück, da sagte die Frau an der Ausleihtheke zu mir: „Könntest du deiner Lehrerin ausrichten, dass wir heute schon um viertel fünf schließen?“ Ich antwortete daraufhin: „Was bedeutet denn viertel fünf? Viertel nach oder viertel vor fünf?“ Sie sah mich schräg an und sagte: „Ach, du als Ausländerin verstehst unsere Sprache sowieso nicht. Ich rufe sie nachher an und sage es ihr persönlich.“
Die Situation änderte sich, als wir nach meinem vierten Schuljahr aufs Land zogen. Mittlerweile hatte sich unsere Familie auf fünf Mitglieder vergrößert und unsere damalige Wohnung war zu klein geworden. Meine Eltern kauften daraufhin ein eigenes Haus mit Garten. Bis heute bin ich überwältigt und stolz, was meine Eltern alles in dieser kurzen Zeit geschafft haben. Es stimmt, dass Vietnamesen sehr fleißig sind.
Das Leben auf dem Land gestaltete sich für mich schwieriger als gedacht. Oft wurde ich an der Bushaltestelle von Gleichaltrigen aufgrund meines Aussehens und meines Namens gehänselt. Je älter ich wurde und somit immer mehr in die Phase der Pubertät hineinwuchs, desto mehr beschäftigte ich mich mit meinem Aussehen, meiner Herkunft und meiner Identität. Wie oft habe ich mir gewünscht, unauffällig dazuzugehören, anstatt aus der Masse herauszustechen. Auf dem Gymnasium gab es kaum Schüler mit Migrationshintergrund. In der 10. Klasse veranstaltete unsere Stufe einen Auslandsaufenthalt in London. Während des Unterrichts fragte unsere Lehrerin, ob alle Schüler ein entsprechendes Reisedokument besaßen, um nach England einreisen zu dürfen. Alle nickten, ich ebenfalls. Später kam die Lehrerin auf mich zu und sagte: „Thu Ha, du hast dich vorhin nicht gemeldet, als ich nach euren Reisedokumenten gefragt habe. Es ist nichts, wofür du dich schämen musst, wenn du nicht ins Land einreisen darfst. Ich muss es nur vorher wissen.“ Ich war wirklich bestürzt, denn offiziell war ich seit mehreren Jahren deutsche Staatsbürgerin. Laut Papier unterschied mich nichts mehr von den anderen Kindern, in der Realität sah das aber anders aus.
12 Jahre nachdem meine Eltern und ich unser Heimatland verließen, durften wir zum ersten Mal wieder nach Vietnam einreisen. Paradoxerweise wurde uns bis zu diesem Zeitpunkt erlaubt, in jedes andere Land einzureisen, außer in die eigene Heimat. Erst als wir offiziell deutsche Staatsbürger wurden, durften wir endlich den Rest unserer Familie wiedersehen oder vielmehr kennenlernen. Vor unserer Reise war ich sehr aufgeregt, denn obwohl ich keinerlei Erinnerungen an Vietnam hatte und ich mir auch nicht vorstellen konnte, was mich genau erwarten würde, so wusste ich doch, dass wir in einer Art und Weise „nach Hause“ kommen würden.
In Deutschland war ich es gewohnt, dass an meinem Geburtstag keine Großeltern oder Verwandten zu Kaffee und Kuchen vorbeikommen würden. Auch andere Familienfeste, wie Weihnachten oder Ostern, die wir als neue Christen nun auch feierten, verbrachten wir im kleinen Kreis. Umso mehr freute es mich, im Sommer 2004 endlich meine beiden Großeltern, acht Tanten, zehn Onkel und um die 25 Cousinen und Cousins kennenzulernen. Die erste Begegnung gestaltete sich noch etwas seltsam, denn anders als für meine Eltern, waren für meine Schwestern und mich diese Menschen zu Beginn Fremde. Auch die Kultur und Lebensweise unserer Verwandten machte uns zu schaffen. So fragte meine jüngste Schwester, damals sechs Jahre alt: „Mama, können wir vielleicht nach Hause fahren und morgen nochmal kommen? Hier ist es heiß, laut und dreckig. Ich möchte gerne in meinem eigenen Bett bei uns Zuhause schlafen!“ Meine Mutter erklärte ihr, dass man natürlich nicht zwischen Deutschland und Vietnam beliebig hin und her pendeln kann, vertröstete sie aber damit, dass sie heute Nacht ein sauberes, ruhiges und klimatisiertes Zimmer bekommt. Gleichzeitig hat meine Mutter in diesem Augenblick verstanden, dass ihre Heimat nicht dieselbe ist, wie die ihrer Kinder.
Trotz der Stolpersteine, denen ich bisher begegnet bin, sehe ich es als große Bereicherung an, in verschiedenen Kulturen aufwachsen zu dürfen. Deutschland und Vietnam stellen zwei sehr konträre Länder dar, beide reich an Geschichte und Kultur. Ich bin froh, sagen zu können, dass ich mich gleichermaßen an beiden Orten wohlfühle, da ich im jeweiligen Land viele Kontakte und enge Beziehungen habe. Das ist auch das, was Heimat für mich ausmacht. Es geht nicht darum, sich für eine Seite zu entscheiden: Ist es Deutschland oder ist es Vietnam? Mein Zuhause ist dort, wo meine Familie ist. Das bedeutet im engsten Sinne meine Eltern und meine Schwestern. Wo sie sind, fühle ich mich zugehörig und das ist momentan in Deutschland. Ich fühle mich auch sehr deutsch, nur sehe ich eben nicht typisch deutsch aus.
Kurioserweise sorgt mein Aussehen aber nicht nur in Deutschland für Verwirrung. Auch in Vietnam werde ich ständig danach gefragt, wo ich herkomme. Wenn ich dann erkläre, dass meine Eltern beide aus Vietnam kommen, werde ich oft ungläubig angeschaut. Eines habe ich bei diesem kulturellen Durcheinander gelernt: Ich werde nie allen Erwartungen entsprechen können und möchte es deshalb auch gar nicht versuchen.